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Autor
Schwenke, Philipp

Das Flimmern der Wahrheit über der Wüste

Untertitel
Ein Karl-May-Roman
Beschreibung

1899 verlässt Karl May alias Old Shatterhand bzw. Kara Ben Nemsi, also der Karl May, der sämtliche Sprachen und Dialekte der Welt spricht, seine Gegner mit einem einzigen Faustschlag niederzustrecken und mit Henry-Stutzen und Bärentöter durch Prairie und Wüsten zu streifen pflegt, der im Indianerlager ein genauso gern gesehener Gast ist wie im Beduinenzelt, zum ersten Mal die sächsische Heimat und bricht in den Orient auf, sucht und findet Gold und rettet – mal wieder – die Welt.

Wie?, werden jetzt aufmerksame LeserInnen fragen. Irgendetwas stimmt doch mit diesem Satz nicht. Und sie haben ja recht: Hier stimmt tatsächlich etwas nicht. Aber wahr ist es trotzdem. Wie das aber geht, dass etwas, das nicht stimmen kann, trotzdem wahr ist, oder dass etwas, das wahr ist, trotzdem nicht stimmt, das weiß man, wenn man Philipp Schwenkes höchst unterhaltsamen Roman über Karl May und seine letzte (oder nicht doch erste?) Orientreise, mit leichtem Schwindel aus der Hand legt, ganz genau.
(ausführliche Besprechung unten)

Verlag
Verlag Kiepenheuer & Witsch, 2018
Format
Gebunden
Seiten
608 Seiten
ISBN/EAN
978-3-462-05107-0
Preis
23,00 EUR

Zur Autorin/Zum Autor:

Philipp Schwenke, geboren 1978, arbeitet als Journalist und Autor in Berlin. Er schrieb im Monatsmagazin Neon die Kolumne »Schwenke probiert« und ist Textchef beim Wirtschaftsmagazin Capital.

Zum Buch:

1899 verlässt Karl May alias Old Shatterhand bzw. Kara Ben Nemsi, also der Karl May, der sämtliche Sprachen und Dialekte der Welt spricht, seine Gegner mit einem einzigen Faustschlag niederzustrecken und mit Henry-Stutzen und Bärentöter durch Prairie und Wüsten zu streifen pflegt, der im Indianerlager ein genauso gern gesehener Gast ist wie im Beduinenzelt, zum ersten Mal die sächsische Heimat und bricht in den Orient auf, sucht und findet Gold und rettet – mal wieder – die Welt.

Wie?, werden jetzt aufmerksame LeserInnen fragen. Irgendetwas stimmt doch mit diesem Satz nicht. Und sie haben ja recht: Hier stimmt tatsächlich etwas nicht. Aber wahr ist es trotzdem. Wie das aber geht, dass etwas, das nicht stimmen kann, trotzdem wahr ist, oder dass etwas, das wahr ist, trotzdem nicht stimmt, das weiß man, wenn man Philipp Schwenkes höchst unterhaltsamen Roman über Karl May und seine letzte (oder nicht doch erste?) Orientreise, mit leichtem Schwindel aus der Hand legt, ganz genau. Vielleicht aber auch nur, „wie wenig es lohnt, sich eine herrlich geratene Überzeugung später durch Tatsachen verderben zu lassen“.

Aber noch mal von vorn. 1899 bricht Karl May, der sächsische Weltreisende und Abenteuerschriftsteller, mit seiner Frau Emma und dem befreundeten Ehepaar Klara und Richard Plöhn, aus Radebeul zu seiner ersten Orientreise auf. Wir wissen natürlich heute, dass seine Abenteuer erfunden sind, aber seine Zeitgenossen waren fest davon überzeugt, dass ihr Held all das, was er erzählt, tatsächlich erlebt hat. Und wenn man so berühmt ist wie Karl, dann eilt der Ruhm einem voraus, auch im Orient, denn auch hier gibt es deutsche Reisende, die ihren Kara ben Nemsi im Gepäck haben. Wie man sich denken kann, gibt das Anlass zu allerhand komischen und peinlichen Missverständnissen. Das größte Missverständnis spielt sich natürlich im Kopf des Protagonisten ab, kennt er doch seinen Orient wie seine sprichwörtliche Westentasche und ist darin mehr zu Hause als in Sachsen, aber den Orient, in den es ihn hier verschlägt, den kennt er nun leider gar nicht und fällt entsprechend wie das schlimmste Greenhorn seiner Bücher auf alles und jedes rein. Gleichzeitig rumort es im deutschen Feuilleton: die Frankfurter Zeitung hegt plötzlich Zweifel am Wahrheitsgehalt des Mayschen Werks, sieht darin die Gefahr, die leichtgläubige Jugend zu verderben, und bezichtigt den Autor – horribile dictu – glatt der Lüge. Und das zwingt den derart angegriffenen Kara ben Nemsi natürlich dazu, seinen guten Namen wiederherzustellen, indem er sich auf ein neues Abenteuer begibt …

Durch die geschickte Verknüpfung der Geschichte der Reise mit den Geschicken im häuslichen Sachsen zwei Jahre später, die reich an Liebes- und anderen Wirren sind, gelingt es dem Autor, einerseits die Lebensverhältnisse im wilhelminischen Deutschland der Jahrhundertwende anschaulich zu machen und andererseits die grotesken Verwicklungen, die das Leben des wohl größten Hochstaplers der deutschen Literaturgeschichte zwangsläufig mit sich bringt, mit lachtränentreibender Komik, aber doch liebevoller Einfühlung vorzuführen. Dass das gelegentlich zu heftigen Anfällen von Fremdschämen führt, sei nicht verschwiegen, mindert aber das Vergnügen an der Lektüre kaum.

Man muss als Kind nicht Karl May gelesen haben, um Philipp Schwenkes großartige Mischung aus hervorragend recherchiertem biographischem Material und hinreißendem Schmöker zu genießen. Zu diesem Genuss trägt nicht zuletzt ein Stil bei, der sich vergnügt an Karl Mays eigenen anlehnt, ohne diesen oder auch die Figur des Protagonisten je zu desavouieren. Das Flimmern der Wahrheit über der Wüste macht einfach riesigen Spaß – und das können nicht viele Bücher von sich behaupten.

Irmgard Hölscher, Frankfurt a. M.