Zum Buch:
Manche der Gedichte, die die indisch-kanadische Lyrikerin und Illustratorin Rupi Kaur in ihrem zweiten Buch Die Blüten der Sonne zusammengetragen hat, scheinen aus einem tief empfundenen Schmerz und unüberbrückbarem Verlust herzurühren:
„ich griff nach dem letzten strauß blumen
den du mir gegeben hattest
nun verwelken sie in ihrer vase
einer nach der anderen
pflückte ich die köpfe ab
und aß sie“
Andere rütteln in ihrer Prägnanz und tiefen Wahrheit auf:
„wie viel oder wie wenig
sie anhat
hat nichts damit zu tun wie frei sie ist“
Und wieder andere scheinen im Akt der Heilung entstanden zu sein:
„um zu heilen musst du
zur wurzel der wunde vordringen
und sie von unten bis oben mit küssen bedecken“
Vergleichen, wenn denn ein Vergleich überhaupt nötig ist, ließe sich die Kraft, die Ausdrucksstärke sowie der enorme Nachhall, den die Poesie Rupi Kaurs in jedem Satz enthalten, vielleicht noch mit der britischen Rapperin und Lyrikerin Kate Tempest, die zuletzt mit ihrem Album Let them eat chaos für enorme Aufmerksamkeit sorgte. Doch wo Tempest wie mit dem Brecheisen hantiert, untermauert Kaur ihre Texte mit Farben. Dennoch wird der Leser auf jeder Seite der von ihr selbst illustrierten Gedichte daran erinnert, dass es bei dem Malkasten, aus dem sie sich dabei bedient, keineswegs um den eines verspielten Mädchens handelt, sondern vielmehr um den einer gestandenen jungen Frau, die etwas zu sagen hat und die, um sich Gehör zu verschaffen, Grenzen überschreitet, die nicht von ihr festgelegt wurden. Die Blüten der Sonne ist auch ein Buch für jüngere Leser, die sich vielleicht bisher noch nicht mit Lyrik beschäftigt haben und denen allein das Wort noch ein Graus, eine unschöne Reminiszenz an ihre Schulzeit ist.
Vor allem aber ist Rupis Kaurs zweites Buch eine Sammlung von Gedichten, in denen man sich immer wieder verlieren, aus denen man Kraft schöpfen und Zustimmung erfahren kann, weil sie darin ganz persönliche und dennoch übertragbare Erfahrungen anspricht. Nicht zuletzt sind es die Texte einer großen Lyrikerin.
Axel Vits, Der andere Buchladen, Köln