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Im Zustand stiller Auflösung

Autor
Ćosić, Bora

Im Zustand stiller Auflösung

Untertitel
Roman. Aus dem Serbischen von Brigitte Döbert
Beschreibung

Ein namenloser Ich-Erzähler will, erkennbar Anfang der neunziger Jahre, auf den Spuren Marcel Prousts, über den er ein Buch schreiben möchte, nach Cabourg in die Normandie fahren. Statt dessen landet er mitsamt Ehefrau und einem befreundeten Ehepaar in dem kleinen Ort Tréboul in der Bretagne, dem Ort, der nach Aussage seines Freundes nicht nur viel reizvoller sei, sondern ihm überdies die Gelegenheit bieten könne, seine Kunst als Schriftsteller zu beweisen, denn ein Schriftsteller sei doch nicht darauf angewiesen, die realen Orte seiner Bücher zu betrachten, sondern müsse aus sich selbst schöpfen …
(ausführliche Besprechung unten)

Verlag
Schöffling Verlag, 2018
Seiten
128
Format
Gebunden
ISBN/EAN
978-3-89561-616-7
Preis
18,00 EUR
Status
lieferbar

Zur Autorin / Zum Autor:

Bora Ćosić, 1932 in Zagreb geboren, ist einer der großen europäischen Schriftsteller und hat in über 30 Prosa- und Essaybüchern vielfältig das Sinnlose, Groteske, Absurde und Tragische der Geschichte des Balkan gezeichnet. Ćosić lebt in Berlin und Rovinj.

Für sein Werk erhielt er zahlreiche Auszeichnungen, darunter 2002 den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung, 2008 den Albatros-Preis der Günter-Grass-Stiftung sowie zuletzt den Internationalen Stefan-Heym-Preis 2011.

Zum Buch:

Ein namenloser Ich-Erzähler will, erkennbar Anfang der neunziger Jahre, auf den Spuren Marcel Prousts, über den er ein Buch schreiben möchte, nach Cabourg in die Normandie fahren. Statt dessen landet er mitsamt Ehefrau und einem befreundeten Ehepaar in dem kleinen Ort Tréboul in der Bretagne, dem Ort, der nach Aussage seines Freundes nicht nur viel reizvoller sei, sondern ihm überdies die Gelegenheit bieten könne, seine Kunst als Schriftsteller zu beweisen, denn ein Schriftsteller sei doch nicht darauf angewiesen, die realen Orte seiner Bücher zu betrachten, sondern müsse aus sich selbst schöpfen.

In Tréboul im Finistère, dem Ende der Welt also, wohnen sie in einem Hotel, das die Freunde aufs höchste preisen, der Erzähler aber nur verabscheut, genauso wie den Besitzer/Kellner Armand, der ihm mit seiner ständigen Unterscheidung zwischen „denen“ und „uns“ heftig auf die Nerven geht. Zudem leidet der Ich-Erzähler an einer namenlosen Krankheit, er hat „was“, offensichtlich etwas Ernstes, ruft doch seine Frau deswegen täglich seinen Neurologen in Zagreb an.

Mehr geschieht eigentlich nicht in diesem schmalen Bändchen, das zwischen Roman, Essay, Aphorismensammlung und Philippika schwankt. Man kommt an, man bleibt, Freunde und Ehefrau fahren wieder ab, der Erzähler bleibt in der Obhut Armands zurück, schreibt sein geplantes Buch über Proust nicht, sondern gibt sich seiner Krankheit, dem „Was“, hin. Dabei scheint es sich um eine Art Melancholie zu handeln, oder, besser, um die Verzweiflung über das Menschengeschlecht, so bissig und zornig wie misanthropisch und hoffnungslos. Es sind scheinbar banale Anlässe, die sein Nachdenken über sich und die Welt anstoßen, ein Nachdenken, das stets von Krieg grundiert wird, vor dem er geflüchtet ist: „Ich habe mich aus dem Staub gemacht, mein entsetzliches Land verlassen, das sich über seine amtlich beglaubigte Blödigkeit hinaus als extrem gewalttätig erwies, obwohl ich das für unmöglich hielt.“

Im Nachwort erklärt der Autor die Entstehungsgeschichte dieses schmalen Bändchens, das zweimal geschrieben werden musste: die erste Auflage wurde von den Serben in Sarajewo vielleicht verbrannt, vielleicht aber auch „peu à peu in eine teigige Masse verwandelt“ und in jedem Fall vernichtet, war es doch in lateinischen und nicht in kyrillischer Schrift erschienen. „Für mich war das Buch tot und neu zu schreiben – angesichts der Masse neuer Beweise, wie tief der Mensch sinken kann, vor allem, wenn der Verstand aussetzt.“ Und genau damit, mit dem Aussetzen des Verstandes, rechnet Im Zeichen stiller Auflösung ab, gnadenlos, bitterböse und verzweifelt komisch. Und wenn man das Buch dann aus der Hand legt, steht man vor der Frage, ob man selbst jetzt auch von der Krankheit, dem „Was“ des Erzählers, angesteckt ist …

Irmgard Hölscher, Frankfurt a. M.