Zum Buch:
Anita hat es schwer. Ohne berufliche Zukunft ist auch an ein eigenständiges, unabhängiges Leben nicht zu denken. Trotz abgeschlossenen Studiums ist sie gezwungen bei Ihren Eltern zu leben, sich mit unklaren Zukunftsaussichten an deren kargem Tisch satt zu essen, und wie ihr geht es vielen Jugendlichen in dieser Zeit in Spanien – in der wirtschaftlichen Depression ist bekanntlich die psychische nicht weit. Gemeinsame Demonstrationen gegen diese aussichtlose Lage helfen da weniger als das anschließende ‚Abhängen’ und ‚Geschichtenerzählen’ in den Parks.
Zunächst sah es so aus, als hätte wenigstens ihr Bruder mit einer Dozentur in Germanistik an der Berliner Universität das große Los gezogen. In Wahrheit aber fristet er des lieben Geldes wegen sein Dasein auf dem Bau, wohnt im Gartenhaus eines von den Eigentürmern längst vergessenen Gartens. Ist er aber auch am Ort seiner Lieblingsdichterin Gertrud Kolmar angekommen?
Als Anita ihre Eltern tot im Schlafzimmer entdeckt, will sie es nicht wahrhaben und reagiert auf eine Weise, die dem Roman eine neue Wendung gibt. Während sie den Tod ihrer Eltern nach außen verheimlicht, lässt sie sie in ihrem Innern und in dem gemeinsamen Zuhause in geradezu phantastischer Weise weiterleben. Sie kommuniziert mit ihnen, trägt sie von einem Ort zum anderen und staffiert sie aus, während sie selbst in die Kleider der Mutter und nach und nach ganz in deren Leben schlüpft. Selbst ihre Freunde erkennen sie nicht als Anita – die Verwandlung scheint perfekt. So getarnt macht sie sich auf den Weg, den mysteriösen Liebhaber ihrer Mutter zu finden. Ist er möglicherweise identisch mit dem in inkognito lebenden deutschen Bestsellerautor? Welche Rolle spielte ihr Vater in dieser Geschichte? Geheimnisse, die zu lüften sind, gibt es bis zum furiosen Ende des Romans genug.
Das Buch, von den Medien hochgelobt, ist bereits auf den Bestsellerlisten. Ich bin jetzt erst darauf gestoßen – manchmal braucht es eben den glücklichen Zufall, eine der besonderen Perlen in der Literatur aufzustöbern. Anna Katharina Hahn ist eine grandiose Erzählerin – Das Kleid meiner Mutter ist poetisch, vielschichtig, spannend. Unter der Oberfläche brodeln jede Menge Überraschungen, die den Leser in Atem halten. Anfangs noch überzeugt, einen realistischen Roman vor sich zu haben, ziehen einen die phantastischen Elemente mehr und mehr in den Bann, bis man sich zuletzt fragt, was real, was Phantasie ist?
Brigitte Hort, Eitorf