Zum Buch:
12.02.18 N.N. (Mädchen) Herkunftsland unbekannt vermutlich ertrunken, an unbekannter Stelle in der Straße von Gibraltar zwischen Marokko und Spanien
25.11.17 N.N. (Junge) Herkunftsland Afghanistan zu Tode getrampelt auf einem Boot nach Lebos (GR), Panik brach bei Anblick eines Frontex Patroullienbootes aus
03.11.17 Osato Osara (schwangere Frau, 20) Herkunftsland Nigeria ertrank während eines Schiffbruchs vor der Küste Libyens mit 25 anderen jungen Frauen
02.03.17 Mamadou Konate, Herkunftsland Mali starb in einem Feuer in einem Camp für Migrant*innen in San Severo (IT); 100 Hütten wurden zerstört
Die wenigsten Einträge haben einen Namen. N.N. steht für einen von über 35.000 Menschen, die bei der Überquerung des Mittelmeers Richtung Europa allein in den letzten 25 Jahren ihr Leben verloren haben. Wenn auch die Namen der Verstorbenen meist nicht ermittelt werden konnten, so bekommen hier Frauen, Männer, Kinder doch ein Stück ihrer Menschenwürde zurück. Es wird daran erinnert, dass sie sich auf den Weg in ein vermeintlich besseres Leben gemacht haben, weil sie keine andere Wahl hatten. In den oft wenig sachlich geführten und aufgeheizten Diskussionen um den sogenannten „Flüchtlingstourismus“ wird immer wieder ausgeblendet, dass Flucht für diese Menschen nicht die schönere, sondern die einzige Option war.
Außer dem Verzeichnis der Toten, das die Seiten 107 bis 434 füllt, kommen im vorliegenden Buch unterschiedlichste Beteiligte zu Wort und legen Zeugnis über eine humanitäre Katastrophe ab: Rolf Gössner, Heribert Prantl, Moustapha Diallo, Aktivist*innen, Journalist*innen, Wissenschaftler*innen, Geflüchtete, Religionsvertreter*innen, Schüler*innen. Die Blickwinkel sind mehr als unterschiedlich, allen gemein ist aber eine Aussage: es darf nicht zugelassen werden, dass weiter Menschen auf der Flucht sterben, obwohl sie gerettet werden könnten. Es darf heute und in Zukunft nicht unterschieden werden, zwischen Menschen, die es vermeintlich verdient haben in einem friedlichen, reichen Land zu leben und anderen, denen der Zugang verwehrt bleibt.
Nehmen Sie dieses Buch mit zum trauten Familientreffen. Wenn Ihnen Ihr Schwager nach dem Dessert mal wieder erklären will, dass unser Problem die unkontrollierten Flüchtlingsströme sind, die von Schleppern und ziviler Seenotrettung begünstigt oder gar ausgelöst werden, bitten Sie ihn, eine halbe Stunde in „Todesursache: Flucht“ hineinzulesen. Wenn Sie selber manchmal im Stillen zweifeln, ob wir uns als Gesellschaft so viel „Hilfe“ für all diese Menschen, die unterwegs nach Europa sind, leisten können, dann gehen sie in diesen Tagen mal in eine der deutschen Innenstädte und nehmen sich einen Augenblick Zeit, den irren Konsumrausch einer mehr als satten Gesellschaft zu genießen. Und lesen Sie danach einige Seiten in diesem Buch.
Todesursache: Flucht gibt keine erschöpfenden Antworten auf komplexe Fragestellungen, beantwortet nicht, wie eine Zusammenführung unterschiedlicher Kulturen langfristig funktioniert, oder wie die vielfältigen Ursachen für Flucht bekämpft werden können. Diese 455 Seiten rütteln vor allem an unserer Bequemlichkeit, fordern uns auf, Verantwortung zu übernehmen, auch dafür, dass Europa bis heute Bodenschätze und Fischgründe anderer Erdteile ausbeutet und sich an Kriegen beteiligt, die Menschen zwingen, ihre Heimat zu verlassen. Wenn über die Zukunft Europas gesprochen wird, muss klar sein, dass diese Gemeinschaft kompromisslos für die Menschenrechte eintreten muss, die vor 70 Jahren in Paris erklärt wurden. Diese Menschenrechte dürfen nicht an den Außenrändern von Europa enden. Denn “Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren“ (Artikel 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte).
Larissa Siebicke, autorenbuchhandlung marx & co, Frankfurt