Zum Buch:
Franz Hessel, Berliner Schriftsteller aus jüdischer Familie, der in den zwanziger und dreißiger Jahren bis zur Flucht 1938 Lektor bei Ernst Rowohlt war, erzählt Kindheit und Jugend des Kaufmannssohnes Gustav Behrendt. Ein magischer Entwicklungsroman mit autobiografischen Zügen, der auch als Bildungs- und Gesellschaftsroman des frühen 20. Jahrhunderts gelesen werden kann. Hessel wechselt mühelos die Ebenen zwischen Realem und Surrealem, Wirklichem und Erträumtem und zeichnet so im Weltenspiegel des Heranwachsenden ein Bild seiner selbst.
Der kleine Gustav sitzt unter bunten kreisenden Sonnen, die sich beim Streicheln als eklig klebende Ballons erweisen, hört die Stimme seiner Mutter durch einen blanken Stab „mit zwei Schlünden an Ohr und Mund“ und will darauf gleich zu ihr, zur wirklichen Mutter nach Hause gebracht werden. Diese Diskrepanz zwischen Wahrnehmung und Wirklichkeit bestimmen Gustavs Kinder- und Jugendjahre. Das unfassbare Glück und Unglück des Lebens hat seinen Ursprung in der Suche nach einer Schönheit, die nicht nur aus der Ferne bezaubert, sondern sich im eigenen Ertasten bestätigen soll und es zumeist nicht tut. Der „Kramladen“ im Titel steht in diesem Zusammenhang sowohl als Bild als auch als Ort im Roman für vielfältige und verlockende Angebote von Schönheit, die beim genaueren Hinsehen und Begreifen zu Tand werden.
Gustav Behrendts stille, aber unüberhörbare Sehnsucht nach einem Glück, das ihm nicht nur im Beobachten, sondern auch im eigenen Erleben geschenkt wird, ist heute so aktuell wie vor hundert Jahren. Der Autor selbst mag sie geteilt haben, und das nicht nur in Jugendjahren – in dem 1913 erschienenen Roman verarbeitet Hessel seine Studentenjahre in der Münchner Bohème. Es will aber so scheinen, als habe der Autor in dem beobachtenden Gustav auch seine eigene Rolle in der Ehe mit Helen Grund vorausgesehen, die an der ménage à trois mit dem Pariser Schriftsteller Henri-Pierre Roché zerbrach.
Susanne Rikl, München