Zum Buch:
Es fällt schwer, den Leser von der literarischen Qualität eines Buches zu überzeugen, das für den sich stets mitten im Leben wähnenden Konsumenten von der ersten bis zur letzten Zeile eine sich steigernde Zumutung darstellt. Es handelt vom erfolglosen Kampf eines Menschen gegen den Tod. Wolfgang Herrndorfs „Arbeit und Struktur“ fängt da an, wo Silvia Bovenschens „Älter werden“ aufhört. Angesichts der unabweisbaren Tatsache, dass die Gliedmaßen der im fortgeschrittenen Stadium an multipler Sklerose leidenden Autorin dem steuernden Hirn den Dienst verweigern, stellt sie im letzten Absatz fest, dass ihr die Fähigkeit, sich vor den zerstörerischen Angriffen auf ihr Nervensystem in den Raum der Kognition zurückzuziehen, abhanden zu kommen droht: Das Ich ist nicht länger der Herr im Haus ihres Körpers.
Gegen einen solchen Räumungsbescheid stemmt sich Wolfgang Herrndorf mit einem voluntaristischen Kraftakt. Kurz nachdem ihm die Ärzte in der Neuropsychiatrie am 10. Februar 2010 ein tödliches Glioblastom attestiert haben, besorgt er sich eine großkalibrige Waffe, die ihn in den Stand setzt, bei Beeinträchtigung seiner Koordination und Orientierung den Zeitpunkt seines Todes selbst festzulegen: „Ich habe mich damit abgefunden, dass ich mich erschieße. Ich könnte mich nicht damit abfinden, vom Tumor zerlegt zu werden, aber ich kann mich damit abfinden, mich zu erschießen. Das ist der ganze Trick. Schon seit Tagen keine Beunruhigung mehr. Sobald ein Gedanke kommt, höre ich das geschmeidig klickende Geräusch der Abzugsgruppe, und Ruhe ist.“
Mit diesem Akt der Selbstermächtigung gelingt es ihm nicht nur, seine Todesangst in Schach zu halten , sondern auch eine Liebe zum Leben und zur Literatur in einer Tonlage zu artikulieren, die in der deutschsprachigen Prosa, soweit ich weiß, einzigartig ist. Wenn er in einer stürmischen Nacht in der Klinik sein Weltbild ordnet und den Pfleger bittet, das Fenster offen zu lassen, stellt er sich vor, mit seinem Bett in einem sehr hohen, schlanken Ziegelturm zu liegen, umgeben von schwarzer Finsternis und der unendlichen Leere des Weltalls, und die Naturgewalten rütteln an seinem Turm und können nicht herein: „Nicht in der winzigen Sekunde der Gegenwart, in der ich unantastbar bin.“ In einer Notiz beschreibt er den regressiven Impuls, in die Welt des gedruckten Wortes abzutauchen, um sich seiner selbst zu vergewissern: „Was jetzt zurückkehrt beim Lesen, ist das Gefühl, das ich zuletzt in der Kindheit und Pubertät und danach nur noch sehr sporadisch und nur bei wenigen Büchern hatte: dass man teilhat an einem Dasein und an Menschen und am Bewusstsein von Menschen, an etwas, worüber man sonst im Leben etwas zu erfahren nicht viel Gelegenheit hat, selbst, um ehrlich zu sein, in Gesprächen mit Freunden nur selten und noch seltener in Filmen, und dass es einen Unterschied gibt zwischen Kunst und Scheiße.“
Dass sich dieses immer wieder neue und immer wieder überwältigende Erlebnis des Lesens ausgerechnet bei einem Text einstellt, der auf 450 Seiten unentrinnbar auf den Tod zuläuft, den wir alle erleiden werden, ist ein Wunder, das ich mit anderen Lesern gerne teilen würde. Wolfgang Herrndorf wünschte sich für seinen Nachruf eine medizinisch-fachliche Beschreibung seines Ablebens: „Wie es gemacht wurde, wie es zu machen sei. Kaliber, Schusswinkel, Stammhirn etc., für Leute in vergleichbarer Situation. Das hat mich so viele Wochen so ungeheuer beunruhigt, keine exakten Informationen zu haben.“ Dem Wunsch wurde von seinen Freunden entsprochen: „Wolfgang Herrndorf hat es gemacht, wie es zu machen ist. Am Montag, den 26.August 2013 gegen 23:15 schoss er sich am Ufer des Hohenzollernkanals mit einem Revolver in den Kopf. Er zielte durch den Mund auf das Stammhirn. Das Kaliber der Waffe entsprach etwa 9 Millimeter.“ Nun ist alles gesagt. Bis auf den einen Satz: Diese Stimme wird uns fehlen.
Günter Franzen, Frankfurt am Main