Zum Buch:
Am 17.4.1975 eroberten die “Roten Khmer” die kambodschanische Hauptstad Phnom Penh. Damit beendeten sie einen langjährigen Bürgerkrieg und proklamierten das “Demokratische Kampuchea”. Unverzüglich begannen sie unter ihrem Führer Pol Pot damit, das Land nach ihren Vorstellungen umzugestalten – mit ungeahnten Konsequenzen und unvorstellbarer Gewalt. Um ihr Ziel – ein kommunistischer Agrarstaat ohne Geld und persönliches Eigentum – zu verwirklichen, wurde die gesamte Bevölkerung Phnom Penhs innerhalb weniger Tage aus der Stadt vertrieben. Familien wurden systematisch auseinandergerissen, Beamtenschaft und Polizei, Akademiker, Intellektuelle und der buddhistische Klerus gnadenlos verfolgt, gefoltert und ermordet. Alle Menschen, die aus Sicht der Roten Khmer die alte Ordnung repräsentierten und nicht bereit waren, sich den neuen Machthabern für die Verwirklichung der revolutionären Ziele zur Verfügung zu stellen, wurden getötet. Städte wurden entvölkert, Verwaltungsgebäude, Schulen, Krankenhäuser und Tempel zerstört. Die Gewaltherrschaft der Roten Khmer dauerte bloß 4 Jahre und kostete nach Schätzungen nahezu 2 Millionen Menschen das Leben. Sie wurden Opfer der “Killing Fields”, der unmenschlichen Bedingungen in den Arbeitslagern, verhungerten, wurden willkürlich exekutiert oder starben, weil es keinerlei medizinische Versorgung mehr gab.
Opferzahlen allein sind abstrakt. Das Grauen der Verbrechen, das individuell erlittene Leid , die Tragödie eines ganzen Volkes, das um ein Drittel seiner Menschen beraubt wurde, dies alles zu erfassen, gelingt nur in empathischen Schilderungen von Einzelschicksalen und individuellen Erinnerungen. Vaddey Ratners Roman “Im Schatten des Banyanbaums” ist ein Beispiel. Es ist ein gleichzeitig todtrauriges und poetisches Buch. Die Geschichte, die, wie die Autorin in einem kurzen, deshalb aber nicht weniger aufschlussreichen Nachwort erklärt, in wesentlichen Zügen ihre eigene ist, wird uns durch das Mädchen Raami erzählt. Die kindliche Erzählperspektive verleiht dem Text eine besondere Eindringlichkeit. Der unverstellte Blick auf furchtbare Geschehnisse und die nüchternen Schilderungen stehen in seltsamem Kontrast zu wunderschönen Naturbeschreibungen. Ein Kind versucht zu verstehen, was auch Erwachsene nicht begreifen können. Mit Phantasie und den Erinnerungen an ihren geliebten Vater, aus denen Raami Kraft schöpft, schafft sie es, das Leid und die Strapazen zu ertragen und alles zu überleben.
“Im Schatten des Banyanbaums” ist eine grausame Geschichte, die in wunderschönen Worten erzählt wird, eine Geschichte über menschliche Stärke und Leidensfähigkeit, über Mitgefühl und Überlebenswillen. Vaddey Ratner, deren vollständiger Name Neak Ang Mechas Ksatrey Sisowath Ratner Ayuravann Vaddey lautet, ist Spross der königlichen Familie Sinowath I. Fast ihre gesamte Familie wurde durch die Roten Khmer ausgelöscht. Die Autorin hat mit diesem herausragenden Buch Großes geleistet, hat sie doch nicht nur sich selbst von einigen Dämonen der Vergangenheit befreit, sondern auch für alle Opfer der unglaublichen Verbrechen der Roten Khmer ein literarisches Mahnmal geschaffen.
Ralph Wagner, Ypsilon Buchladen&Café