Zum Buch:
Nellys liebstes Gefühl ist es, hoch in der Luft mit der Mechanik ihres Flugzeugs zu verschmelzen. Ihr Mann Paul war bei der Verwirklichung ihrer Träume, bis hin zur gemeinsamen Flugschule, stets ihr verlässlicher Begleiter. Als dieser – als französischer Staatsbürger ein Arbeits- und Flugverbot erhält, ist Nelly ebenso unerschütterlich an seiner Seite, wie zu der Zeit seiner Inhaftierung während des ersten Weltkriegs. Nach Kriegsende bauen sie allen Widerständen zum Trotz ihre Flugschule wieder auf. Die finanziellen Probleme sollen mit einem Mammutprojekt gelöst werden: einer Weltreise in der von ihnen gemeinsam entwickelten Zweisitzer-Maschine mit Filmaufnahmen aus der Sicht des Piloten. Doch als Nelly wegen einer Erkrankung immer öfter auf das Fliegen verzichten muss, verschiebt sich etwas in ihrer Beziehung. Der Roman begleitet Nelly durch diese Phase ihres Lebens, in der alles, was ihr bisher Struktur gab, wegbricht und sie sich in sich selbst zurückzieht. Eine neue Richtung findet sie nach einiger Zeit zunächst in einem neuen Job auf der Automobil-Messe und schließlich auch in einer neuen Liebschaft. In ihrem Verhältnis mit der Werbejournalistin Irma erlebt Nelly zum ersten Mal, dass ein anderer Mensch ausreicht, um die Bodenhaftung zu verlieren. Ein Gefühl, in dem sie sich selbst zunehmend aufzulösen droht.
Aris Fioretos Beziehungsroman aus der Zeit zwischen den Weltkriegen erzählt somit nicht nur von einem Ehepaar, das um die Wiederherstellung von Normalität kämpft, und von der haltlosen Intensität einer neuen Liebschaft, sondern schafft darüber hinaus auch die Charakterstudie einer Frau, deren Kampfgeist ungebrochen blieb, bis ihr Körper sich ihr versagte. Nellys körperliche Versehrtheit eröffnet ihr jedoch auch die Möglichkeit, sich zum ersten Mal in ihrem Leben emotional zu öffnen. Aber kann ein Verhältnis dem Druck so vieler vergangener Jahre standhalten?
Fioretos Roman bietet eine psychologische Introspektive. Dass dies eine Textart ist, die dem Autor liegt, hat er bereits mit Werken wie dem Gefängnisroman Mary bewiesen. Auch wenn er hier vergleichbar feinere Töne anschlägt, geht darüber die Intensität seiner Beschreibungen nicht verloren. Darüberhinaus schreibt sich, wenn auch primär auf der Ebene des Privaten, auch die Zeit im Berlin der späten 1910er und frühen 20er Jahre ein: als eine Phase der Orientierungslosigkeit und des euphorisch-panischen Neubeginns.
Theresa Mayer, autorenbuchhandlung marx & co, Frankfurt