Zum Buch:
Ein fataler Fehler der Krankenschwester Julia fordert fast das Leben einer Patientin, Julia selbst aber den Job und auch fast die Erlaubnis, an anderem Ort wieder in ihrem Beruf tätig zu werden. Die Protagonistin stürzt in eine tiefe Krise, die sie zum Nachdenken zwingt, nachdenken über ihr Leben voller Arbeit unter dauerhaftem Druck, einer Affäre mit einem verheirateten Arzt und einer asthmatischen Erkrankung, die ihr wortwörtlich immer wieder die Luft zum Atmen nimmt.
Wohin, wenn alles zusammenbricht? Nachhause zu den Eltern. Aber auch dort in ihrem Heimatdorf irgendwo im Salzburger Land, ist längst nicht mehr alles so, wie sie dachte. Die Mutter ist vor dem eigenen Leben und ihrem patriarchischen Ehemann nach Italien geflohen, um endlich ihr eigenes Leben zu leben. Der alternde Vater ringt mit seiner Daseinsberechtigung als Arbeiter, der keiner Arbeit mehr nachgeht, da er sich in einem „Anflug von Angst und Gier“ mit einer Abfindung in die Frührente begeben hat.
Die Enge des Elternhauses und des Lebens im Dorf schildert die österreichische Autorin Birgit Birnbach eindrucksvoll bedrückend. Man möchte der Protagonistin zurufen, sich sofort wieder auf den Weg in die Stadt, zumindest zurück ins eigene Leben zu machen, was sie aber nicht tut. Bleiben oder gehen? Verantwortung übernehmen für das misslungene Leben des Vaters, sich wieder im Schatten des Berges einrichten, dem Julia schon in ihrer Kindheit verübelte, nie Sonne ins Dorf zu lassen? Oder weitermachen im alten Leben, das auf anderen Ebenen nicht mehr funktionieren will und ebenso wenig reizvoll scheint?
Dass man ihr Heimatdorf auch mit anderen Augen sehen kann, lernt Julia in zaghaften Begegnungen mit Oskar, den sie nur „den Städter“ nennt und der sich in der nahegelegenen Kurklinik von einem Herzinfarkt erholt. Oskar blickt von außen auf die überalterte männliche Dorfgemeinschaft, deren wichtigster Moment des Tages der Besuch der Dorfkneipe ist, deren alkoholkranker Wirt wiederum seine Existenzgrundlage gerade beim Kartenspielen verliert. Er, der Städter, in innerer Aufbruchstimmung, erkennt die enorme Wichtigkeit der Kneipe: sie ist für viele Menschen der einzige Ort sozialer Begegnungen. Deswegen stiftet er die Männer an, ihre handwerklichen Fähigkeiten in den Erhalt der Dorfkneipe zu stecken und holt damit viele von ihnen aus ihrem eintönigen Alltag zurück in ein Dasein, in dem ihr Mitwirken einen Unterschied macht.
Im Zentrum dieses unaufgeregten Dorfromans, den man auch als Sozialstudie lesen könnte, steht allerdings nicht vordringlich das Miteinander einer ländlichen Dorfgemeinschaft. Vielmehr stellt er den Figuren wie den Lesenden die übergeordnete Frage, womit wir unsere Lebenszeit verbringen und wer wir sein wollen. Bachmannpreisträgerin Birgit Birnbacher nutzt ihre Beobachtungsgabe und Ihre wunderbar klare, präzise Sprache dazu, eine Geschichte von Menschen zu erzählen, die sich selbst im Weg stehen. Ohne belehrenden Zeigefinger stellt sie unsere erschöpfenden Arbeitswelten einer sowohl möglichen als auch sinnstiftenden Alternative gegenüber. Bedingungsloses Grundeinkommen und veränderte Prioritätensetzung im eigenen Lebenslauf sind dabei nur Denkanregungen, die einen nach der Lektüre ihres neuen Romans bereichert zurücklassen.
Larissa Siebicke, autorenbuchhandlung marx & co, Frankfurt