Zum Buch:
„Das Wichtigste ist der Atem. Das ruhige und langsame Ein- und Ausatmen, die Geduld des Atems. Zuerst muss man auf seinen Körper hören, auf seinen Herzschlag …“ So beginnt der erste, in Frankreich bereits 2003 erschienene Roman des Goncourt-Preisträgers Mathias Enard, bei uns bekannt durch Bücher wie Zone und Kompass. Doch was auf den ersten Blick klingt wie eine Einführung in Meditation dient keineswegs der inneren Einkehr, sondern dem Töten. Wir sind im Krieg, einem nicht näher bezeichneten (Bürger?-) Krieg irgendwo im Mittelmeerraum. Der namenlose Ich-Erzähler, der sich hier auf seine Aufgabe vorbereitet, ist der beste Scharfschütze seiner Einheit, mit einer Trefferquote von über 95 Prozent, und er führt die LeserInnen geradewegs in die Hölle des Kriegs und in die innere Hölle eines Menschen, der von diesem Krieg verschlungen wird.
Der Ich-Erzähler ist 18, als der Krieg beginnt, und der grausame Tod seines ersten Opfers verfolgt ihn noch lange in seinen Träumen. Sein Ausweg aus dem Schrecken ist Disziplin und Perfektion, eine kalte, präzise Haltung, die sich auf den perfekten Schuss konzentriert. Ganz bei sich ist er, wenn er auf einem Dach liegt und sein Ziel anvisiert, die Kälte des Gewehrs an seiner Wange spürt und entscheidet, wo die Kugel treffen soll – in den Kopf, das Herz, den Bauch? Der Triumph entsteht aus dem gelungenen Treffer; dass dadurch ein Mann, eine Frau, ein Kind stirbt, ist im Grunde ein Nebenprodukt. Sein Selbstbewusstsein bezieht er aus dem Respekt, den er sich mit seiner kalten Perfektion erwirbt: „Je mehr Zeit verging, desto mehr sahen meine Kameraden, überhaupt alle, zu mir auf wie zu einem Standbild, mit Furcht und Respekt, ein wenig wie zu einem Vorgesetzten.“ Und er genießt die Angst der Nachbarn und sogar seiner Mutter, die nach dem Unfalltod ihres Mannes zunehmend wahnsinnig wird und um die er sich, so gut er kann, kümmern muss. Für ihre Pflege holt er sich die junge Waise Myrna ins Haus, die ihn im Gegensatz zu allen anderen nicht zu fürchten scheint …
Der perfekte Schuss ist ein Buch, dem man vielleicht eine Warnung vorausschicken sollte, denn Enard führt die LeserInnen durch die Ich-Perspektive mitten hinein in den Kopf eines, wie man wohl sagen muss, psychopathischen Mörders bzw. eines Soldaten, den der Krieg zu einem psychopathischen Mörder gemacht hat, zu einem monströsen „Standbild“. Die Risse, die dieses Standbild im Lauf des Romans bekommt, erklären nichts, wecken auch keine Empathie, lassen gelegentlich andere, verlorengegangene Möglichkeiten aufblitzen, etwa in der herzzerreißend zärtlichen Szene, in der der Protagonist mit seinem einzigen Freund, einem brutalen Folterer und Mörder, eines Nachts schwimmen geht und plötzlich Nähe und Liebe entstehen. Aber solche, sehr sparsam eingesetzten Szenen lassen nicht die Spur einer Hoffnung auf einen Ausweg aus der inneren Hölle des Ich-Erzählers zu, der mit dem Versuch, seine Grausamkeiten quasi zu einem Kunstwerk zu ästhetisieren und sie sich damit vom Leib zu halten, auf unerträgliche Weise scheitert. Indem er seinem Protagonisten nur noch Rudimente von Gefühlen zugesteht, überlässt Mathias Enard durch die erbarmungslose Kälte seiner Beschreibung emotionale Reaktionen ausschließlich dem Leser, der damit allein zurückbleibt.
Der perfekte Schuss ist, vor allem in der glänzenden Übersetzung von Sabine Müller, bei allem Schrecken ein brillantes literarisches Werk über den Krieg und seine Folgen für die Menschlichkeit, auf das man sich gerade heute einlassen sollte und das einen schaudernd hoffen lässt, so etwas nie erleben zu müssen.
Irmgard Hölscher, Frankfurt a.M.