Die illustren Philosophen im Disput über eine der großen Fragen der Aufklärung: Sind die Unterschiede zwischen den Menschen naturgegeben, oder werden sie durch Erziehung, Umstände und Zufälle hervorgebracht, wie C. A. Helvétius in seiner Schrift Vom Menschen, seinen geistigen Fähigkeiten und seiner Erziehung behauptet? Zu unserem Glück hat Enzensberger diesen seither immer wieder neu aufflammenden Streit nicht in einem monologischen Traktat, sondern – ganz im Geist Diderots – in einem höchst kurzweiligen Dialog zwischen diesen beiden Gelehrten gefaßt, die sich, könnte man vermuten, in dieser Frage nicht allzu fernstanden. Um so überraschter ist man, Diderot Helvétius’ Thesen entschieden widersprechen zu hören: Er beruft sich auf die Beobachtung von Kleinstkindern (und Hunden), macht die Leidenschaft, nicht den Zufall als Triebfeder außerordentlicher Begabungen geltend (die er nebenbei als »Mißbildungen« bezeichnet), kurz, er zerpflückt Helvetius’ Argumentation, der ihm seinerseits Sprunghaftigkeit, Inkonsequenz und Extravaganz vorwirft – um ihn am Ende unvermutet zu loben: »Ich habe Ihr Werk zu streng beurteilt. Glauben Sie mir, ich werde es meinen Landsleuten ans Herz legen, besonders den Eltern, die an ihren Kindern verzweifeln, und den oberen Zehntausend, um sie von ihrem Hochmut zu heilen.« Ganz zum Schluß läßt Enzensberger Diderot eine Geschichte über die Geburt des Menschen erzählen: »Der uneheliche Sohn der Torheit und der Weisheit, Patenkind Jupiters, durch die Wahrheit entbunden und von der Dummheit gestillt – das ist der Mensch. Wahrheitsliebend und verlogen, traurig und fröhlich, gut und böse, gescheit und dumm, gleichen wir diesem Bankert aufs Haar.« Womit Diderot das letzte Wort behält, doch nur, »da Sie, mein armer Helvétius, schon vor gut zwei Jahren, sehr zu meinem Leidwesen, das Zeitliche gesegnet haben. Ich hätte sonst kaum so leichtes Spiel mit Ihrem vertrackten Buch gehabt. Wir wären uns noch eine halbe Ewigkeit lang in den Haaren gelegen und hätten uns dabei ganz köstlich amüsiert.« Und so erteilt uns Enzensberger in der Rolle Diderots, der wiederum in die des Helvétius geschlüpft ist, ganz nebenbei eine Lektion für die Sache der Streitkultur. CLAUDE-ADRIEN HELVÉTIUS (1715-1771),dem sein beträchtliches Vermögen es erlaubte, sich ganz der Philosophie – und den Frauen – zu widmen, hatte schon mit seinem ersten größeren Werk Vom Geist in Frankreich soviel Anstoß erregt, daß es nicht nur verboten, sondern – auf Parlamentsbeschluß – öffentlich verbrannt wurde. In dem erst posthum, und auch dann nur im Ausland veröffentlichten Werk Vom Menschen, seinen geistigen Fähigkeiten und seiner Erziehung (London 1773) vertritt er die These, »die Erziehung … ganz allein bring(e) die Unterschiede zwischen den Menschen hervor«. DENIS DIDEROT (1713-1784), Herausgeber und treibende Kraft des Mammutunternehmens Encyclopédie, der in den zwanzig Jahren ihrer Entstehung ständig mit der Zensur zu kämpfen hatte und wegen einer seiner ersten Schriften1749 sogar selbst eingekerkert wurde, verfaßte kurz nach Erscheinen von Helvétius’ Schrift Eine Widerlegung, gefolgt von … dem anstößigen, in London erschienenen Werk – das er so an der Zensur vorbei nach Frankreich einschmuggelte.
(Klappentext