Zum Buch:
„Der Comic der Stunde“ (Christian Gasser) kommt eindrucksvoll daher. 420 Seiten, viel zu sehen, viel zu lesen, viel zu entdecken. Und dieses Buch lohnt jede Mühe.
Chicago in den unruhigen 60er Jahren. Karen ist 10 Jahre alt. Ihr Körper, ihre Umgebung, ihre Familie werden ihr zum Rätsel. Sie zeichnet und schreibt ein Tagebuch, das uns teilhaben lässt an ihrem Kampf, an ihrer Suche und an der Kraft ihrer Vorstellungen. Der vermeintliche Selbstmord ihrer jüdischen Nachbarin Anka führt sie tief in die Historie, bis in das nationalsozialistische Deutschland. Die Krankheit ihrer eigenen Mutter droht ihr zudem den Boden unter den Füßen wegzuziehen.
Karen imaginiert sich als Monster, um all die Veränderungen, die in ihr vorgehen, akzeptieren zu können. Sie schlüpft in die Rolle (und Verkleidung) einer Detektivin, um zu verstehen, was in ihrer Umgebung passiert. Sie rettet sich in die Welt der Malerei, insbesondere der Bilder im Chicago-Kunstmuseum, um ihre Familie zu verstehen. Die Populärkultur der 60er, die Ratschläge ihres charismatischen Bruders und die großen Gemälde des 19. Jahrhunderts vermengt sie zu einem visuellen Universum, in dem sie versucht, die Unübersichtlichkeit des eigenen Lebens zu meistern. Es entsteht eine eindrückliche Geschichte von Verlust und Entdeckung.
Die Tagebuchanmutung wird auch formal umgesetzt: Die mit verschiedenen Schraffuren auf liniertes Schulheftpapier gesetzten Zeichnungen sind unterschiedlich stark ausgearbeitet, von der Bleistiftskizze bis zur farbigen, extrem detailreichen Kugelschreiberzeichnung über zwei Heftseiten.
So außerordentlich diese Graphic Novel ist, so ungewöhnlich ist auch die Entstehung des Buches (ein zweiter Band ist bereits gezeichnet). Emil Ferris ist 54 Jahre alt, als ihr Debüt 2016 erscheint. Bis dahin ist sie als Comicautorin nicht in Erscheinung getreten. 2001 erkrankt sie am West-Nil-Fieber, ist teilweise gelähmt. Während ihrer Genesung beginnt sie mit der Arbeit an ihrer Graphic Novel. Zahlreiche Verlage lehnen das Manuskript ab. Als sich jemand findet, der bereit ist, das Buch zu verlegen (Fantagraphics), geht die chinesische Spedition bankrott, die gedruckten Exemplare stecken im Panamakanal fest. Als das Buch schließlich 2017 erscheint, bekommt es schnell enthusiastische Resonanz, vor allem von der Crème de la Crème der Comic Künstler: Art Spiegelman, Alison Bechdel, Chris Ware outen sich als Fans. Im Juli dieses Jahres schließlich bekommt Ferris den Eisner Award als beste Künstlerin, den wichtigsten der zahlreichen Preise, die sie inzwischen gewonnen hat.
„Dieses Buch ist ein Monster – im bestmöglichen Sinne“ sagt die Zeichnerin Alison Bechdel. Recht hat sie.
Jakob Hoffmann, Frankfurt am Main