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Autor
Flasar, Milena Michiko

Ich nannte ihn Krawatte

Untertitel
Roman
Beschreibung

Hikikomori werden in Japan Menschen genannt, die sich weigern, das Haus zu verlassen, die sich in ihren Zimmern einschließen und den Kontakt zu ihrer Familie auf ein Minimum reduzieren. Der 20jährige Taguchi Hiro ist einer von Ihnen. Zwei Jahre lang hat er sich von der Außenwelt abgeschottet und sich „darin geübt, das Sprechen zu verlernen“. Die inneren Monologe abzustellen, ist ihm jedoch nicht gelungen. Auch ist es ihm nicht gelungen, alle Sehnsüchte abzutöten, und so verlässt er voller Ängste und Vorbehalte an einem Wintermorgen sein Elternhaus, um nach so langer Zeit endlich einmal wieder die Sonne auf seiner totenbleichen Haut zu spüren.
(ausführliche Besprechung unten)

Verlag
btb Verlag, 2014
Format
Taschenbuch
Seiten
144 Seiten
ISBN/EAN
978-3-442-74656-9
Preis
8,99 EUR

Zur Autorin/Zum Autor:

Milena Michiko Flašar, geboren 1980 in St. Pölten, hat in Wien und Berlin Komparatistik, Germanistik und Romanistik studiert. Sie ist die Tochter einer japanischen Mutter und eines österreichischen Vaters, lebt als Schriftstellerin in Wien und unterrichtet nebenbei Deutsch als Fremdsprache.

Zum Buch:

Hikikomori werden in Japan Menschen genannt, die sich weigern, das Haus zu verlassen, die sich in ihren Zimmern einschließen und den Kontakt zu ihrer Familie auf ein Minimum reduzieren. Schätzungen zufolge entziehen sich so an die 300.000 vor allem junge Menschen dem Konformitäts- und Leistungsdruck in Schule und Gesellschaft.

Zwei Jahre lang hat sich der 20jährige Taguchi Hiro von der Außenwelt abgeschottet und sich „darin geübt, das Sprechen zu verlernen“. Die inneren Monologe abzustellen, ist ihm jedoch nicht gelungen. Auch ist es ihm nicht gelungen, alle Sehnsüchte abzutöten, und so verlässt er voller Ängste und Vorbehalte an einem Wintermorgen sein Elternhaus, um nach so langer Zeit endlich einmal wieder die Sonne auf seiner totenbleichen Haut zu spüren. Zögerlich beginnt Hiro mit seinem „ersten Freigang“, versucht Blickkontakte und zufällige Berührungen mit anderen Passanten zu vermeiden, möchte nach wie vor für sich sein, bloß nicht jemandem begegnen, den er vielleicht kennt, denn „jemandem zu begegnen bedeutet, sich zu verwickeln. Es wird ein unsichtbarer Faden geknüpft. Von Mensch zu Mensch. Lauter Fäden. Kreuz und quer. Jemandem zu begegnen bedeutet, Teil seines Gewebes zu werden, dies galt es zu vermeiden“. Bereits nach kurzer Zeit ist der von allem entwöhnte Hiro jedoch von den Eindrücken und Geschehnissen so überwältigt, dass er ihnen nicht mehr standhalten kann und in die Stille eines Parks flüchtet. Eine Bank wird für ihn zur Rettungsinsel im Meer der Sinneserlebnisse. Dennoch treibt es ihn in den folgenden Monaten jeden Morgen wieder hinaus. Im Park, auf seiner Bank, bleibt er für sich und beobachtet das Geschehen um sich herum.

Eines Morgens im Mai taucht der Salaryman – so die in Japan übliche Bezeichnung für einen männlichen Angestellten – Ōhara Tetsu, etwa Mitte 50, grauer Anzug, weißes Hemd, eine rot-grau gestreifte Krawatte um den Hals und in der Hand eine braune Ledertasche, das erste Mal im Park auf. Er setzt sich auf die Bank Hiro gegenüber, ohne von ihm Notiz zu nehmen. In den folgenden Wochen werden beide Männer täglich in den Park kommen. Tetsu wird Hiros Anwesenheit registrieren, nach einigen Tagen werden sie sich zur Begrüßung stumm zunicken. Als nächsten Schritt in der Annäherung der so unterschiedlichen Männer wird sich Tetsu zu Hiro auf die Bank setzen und von seinen Problemen zu erzählen beginnen. Er hat seine Arbeit verloren, verheimlicht es aber. Mit einer Offenheit, wie man sie vielleicht nur Fremden gegenüber hat, hilft der Ältere dem Jüngeren, sein Schweigen zu überwinden. Die Preisgabe der eigenen Geheimnisse, das Eingeständnis von Hilflosigkeit, Schuld und Scham, das Sprechen über Feigheit und die Angst vor Aufrichtigkeit und Wahrhaftigkeit, über die Furcht vor den eigenen Gefühlen, aber auch über den Zorn und den Wunsch nach Rebellion gegen das vorgezeichnete Leben, darüber werden die beiden sprechen und jeder wird am Ende für sich klarer sehen. Der Roman wird von seinem Ende her, aus Hiros Sicht erzählt, der die Ereignisse der vergangenen Monate erinnert.

Mit Sätzen die sich einprägen und noch lange nachhallen, ermöglicht uns Milena Michiko Flašar einen Einblick in die Gefühlswelt zweier Menschen aus einer uns oft fremd anmutenden Kultur, in der „Weinen und Sterben Privatsache sind“; und sie lässt die Übereinstimmungen mit unserer Gesellschaft erkennbar werden. Aus ihrem 2010 erschienenen Buch Okaasan stammen folgende Zeilen: „Ich habe gelernt, dass es eine andere Sprache als die der Anklage geben muss. Eine Sprache, die jenseits aller Verletzungen steht und sie – trotzdem – präzise beschreibt. Eine Sprache, die gerecht ist, ohne zu beschuldigen, und die – trotzdem – die Dinge benennt.“ Diese Sprache hat sie in „Ich nannte ihn Krawatte“ einmal mehr gefunden. Ein kurzer großer Roman, dessen Lektüre garantiert lohnt.

Ralph Wagner, Ypsilon Buchladen & Café