Zum Buch:
„Du sollst nicht begehren deines Nächsten Weib.“ Gegen dieses Verbot verstößt König David, eigentlich ein Mann nach dem Herzen Gottes. In „Tamar“ übersetzt Ralph Roger Glöckler die biblische Geschichte vom Strafgericht über David in ein zeitgenössisches Ambiente. Sein König David ist ein erfolgreicher Immobilienmagnat in Frankfurt am Main, den die verhängnisvollen Folgen seiner vergangenen Verfehlungen einholen. Denn obwohl er seine Gottvergessenheit mittlerweile bereut, hat sie sich wie ein Fluch auf die Familie gelegt: Seine Ehefrauen verlassen ihn oder sterben früh. Die Schuld des Vaters rächt sich an seinen Kindern: Die rothaarige Tamar wird als junges Mädchen von ihrem älteren Halbbruder Axel vergewaltigt. Bei ihrem Bruder Andreas, dem schönen Mann, stößt sie auf kein Verständnis.
Glöckler erzählt auf psychologisch subtile Weise die Geschichte von Tamar und ihren Brüdern neu. Axel hat Schwierigkeiten mit Frauen, weil er zu früh von seiner Mutter verlassen wurde, die es mit dem von seiner Arbeit besessen Ehemann nicht länger aushielt. Andreas, ein androgyner Typ, ist im Internat von seinen Mitschülern gedemütigt worden. Das hat ihn gebrochen und beziehungsunfähig gemacht. Sein biblisches Vorbild ist Absalom, dessen tragisches Ende Glöckler zu seinem Roman angeregt hat. Bereits das Motto verweist auf das 2. Buch Samuel (Kap. 12-19) und lenkt so die Leser/innen unmissverständlich auf das Alte Testament. Dieser Prätext verleiht der desolaten Familiengeschichte ihre Nachdrücklichkeit, wobei die psychologische Motivation des Geschehens keineswegs als Rechtfertigung dient, sondern die Ausweglosigkeit nur noch unterstreicht. Ein dem Existentialismus verwandtes Setting, das den strahlenden Himmel über der Bankenmetropole leer lässt. In dem Moment, als David Gott für Andreasʼ Rückkehr dankt – auch er ein verlorener Sohn –, ist dieser ihm ganz fern.
Die Geschichte wird aus der je unterschiedlichen Perspektive der Familienmitglieder erzählt. Vortrefflich beherrscht Ralph Roger Glöckler die Technik des Bewusstseinsstroms, die er bereits in seinen früheren Romanen – „Madre“ (2007) und „Mr. Ives und die Vettern vierten Grades“ (2012) – erprobt hat. Durch den Verzicht auf Chronologie kommt es immer wieder zu Irritationen und überraschenden Begegnungen. Etwa mit der Bäuerin aus Tekoa, die versucht, den melancholischen Patriarchen von seiner Fixierung auf die Vergangenheit abzulenken. Sie wirkt wie eine Passagierin aus biblischer Zeit. So richtig einordnen kann David sie nicht. Verblüffend auch, wie es Tamar schließlich schafft, den Teufelskreis familiärer Schuld zu durchbrechen, denn dabei spielt eine TV-Serie eine wichtige Rolle. Dass eine Soap-opera eine reinigende, gar befreiende Funktion übernehmen kann, verleiht der Aktualisierung des biblischen Stoffes zusätzliche Glaubwürdigkeit.
Durch seine genaue, rhythmisierte Sprache und durch charakteristische Szenen gelingt es Glöckler, auf weniger als 200 Seiten das über einer erfolgreichen Familie liegende Verhängnis aufzuspannen. Die Geschichte handelt von Maßlosigkeit und Macht, von Begehren und übertretenen Verboten, von Missbrauch, Intrigen und Mord. Keine alltägliche Geschichte, aber eine, deren Psychodynamik uns alle angeht.
Carola Hilmes, Frankfurt am Main