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Zwei Mädchen sitzen auf einer Steinbank vor dem großen Haus. Sie sind noch klein – ihre Füße reichen nicht bis auf den Boden. Sie wollen von dort aus die Sonne aufgehen sehen. Auf dem benachbarten Bauernhof kräht ein Hahn. Plötzlich tritt der Bauer aus dem Hof, sein Gewehr im Anschlag. Ein Schuss, der Hahn ist zerfetzt. Die Mädchen erstarren. Das Gewehr zielt jetzt auf sie. Aber diesmal fällt kein Schuss; der Bauer lacht nur und geht.
Mit dieser erschreckenden und rätselhaften Szene beginnt Monika Helfer ihren neuen Roman Die Jungfrau, und mit dem Gespräch der beiden Mädchen darüber lässt sie ihn auch enden. Sie bildet den Rahmen für ihr Nachdenken über Gloria, ihre Schulfreundin, zu der der Kontakt nie wirklich abgerissen ist, trotz verschiedener Lebenswege, unterschiedlicher Erfahrungen und langer Pausen. Anlass ist die Aufforderung, Gloria zu besuchen, die Moni, die Ich-Erzählerin, an ihrem 70. Geburtstag in einem Brief erhält und in dem von Glorias anscheinend bevorstehendem Tod die Rede ist.
In Rückblenden und Reflexionen erfahren wir mehr über Gloria und über die Freundschaft zwischen den beiden völlig verschiedenen Mädchen. Gloria lebt allein mit ihrer schwerreichen Mutter in einem riesigen, aber auch gruselig leeren Haus, Moni mit Vater, Geschwistern und Tante zu siebt in einer Dreizimmerwohnung. Gloria ist schön, begabt, exzentrisch mit einem Hang zur Selbstinszenierung, die geborene Schauspielerin, die es mühelos aufs Max-Reinhard-Seminar schafft, Moni eher nachdenklich, eine scharfe Beobachterin, die sich schon früh im Schreiben übt. Gloria scheint die Dominante in der Beziehung, gibt den Ton vor und das Geld für verrückte Pläne und Unternehmungen, etwa wenn sie mit Moni nach Amerika fliegen will, um sich dort entjungfern zu lassen. Und gleichzeitig ist sie die Bedürftige; sie braucht Moni, um sich ihrer selbst zu vergewissern, um der schönen Hülle, die sie der Welt zeigt, einen Inhalt zu geben, „um ihr Leben neu zu erfinden“. Gloria lebt nicht, sie wartet, auf den abwesenden Vater, von dem sie nichts weiß und über den sie sich immer wildere Geschichten und Lebensläufe ausdenkt, genauso wie auf den verheirateten Liebhaber, der sich von seiner Frau nicht trennen will und aus Angst vor der Hölle im Bett alles tut außer der ersehnten Entjungferung.
Für Moni, die spätere Schriftstellerin, ist Gloria dagegen “immer eine gewesen, die meine Einbildungskraft anzündete, zu schönen Bildern und zu weniger schönen.” Und so gerät das Nachdenken über die Freundin mehr und mehr auch zum Nachdenken über das Schreiben: „Es gehört ja zu den Glücksmomenten beim Schreiben, wenn ohne viel Nachdenken ein Satz entsteht, der den Schreiber selbst zum Nachdenken anregt. Als wäre mir der Satz diktiert worden … ‚Es war eine der Arten, wie Gloria die Zeit vergehen ließ …‘ – über diesem Satz könnte man eine Philosophie errichten. Wenn jemand verschiedene Methoden entwickelt, die Zeit vergehen zu lassen, wie schaut so einer die Welt an, wie das Leben, wie sein Leben? Dann ist das Leben doch nur ein Abwarten. Wie sollte jemand, der wartet, etwas an sich und an seinem Leben verändern wollen? Er wartet. Erst wenn eintritt, worauf er gewartet hat, kann gehandelt werden. Dann erst, vorher nicht, kann man zum Beispiel die Frisur ändern.“
Diese und die vielen anderen Sätze, die auch die Leserin immer wieder innehalten lassen und zum Nachdenken anregen, machen die Lektüre dieses schmalen, kunstvollen Romans zu einem langanhaltenden Glück. Die Jungfrau lässt sich nicht schnell weglesen, man muss sich die Zeit nehmen, den einzelnen Gedanken nachzugehen und sich mit einem Leben auseinandersetzen, dass so skurril wie komisch, so gruselig wie unerfüllt ist wie das von Gloria. Und wenn die am Schluss bei der Unterhaltung über die Frage, ob der Bauer auch sie hätte erschießen wollen, nach Monis Antwort schließlich sagt: „Das ist beruhigend. Danke, Moni“, möchte man einstimmen und ebenfalls sagen: Danke, Monika Helfer.
Irmgard Hölscher, Frankfurt a.M.