Zum Buch:
Eine Aktivistengruppe hat eine Protestaktion am Basler Bahnhof angekündigt. Um die zu verhindern, beobachtet der Polizist Beat Marotti eine Nacht lang über Überwachungskameras das Geschehen im Bahnhof. Statt aber seiner eigentlichen Aufgabe nachzugehen, interessiert er sich nur für zwei Menschen und wird vom Beobachter zum Kinozuschauer und schließlich zum Regisseur ihres Schicksals. Marie Malcovatis Debutroman „Nach allem was ich beinahe für dich getan hätte“ erzählt auf nur 127 Seiten unterhaltsam und empathisch das Leben dreier Menschen.
Eigentlich müsste Marotti gar nicht zum Dienst erscheinen, denn er ist krankgeschrieben. Wegen einer Brandverletzung am Fuß kann er nicht laufen. Schlimmer als diese Verletzung aber ist, dass sich seine Frau von ihm getrennt hat, und so ist es ihm lieber, vor den Überwachungskameras seinen Dienst zu tun, als alleine zu Hause seiner Frau nachzutrauern. Zunächst ist das eine langweilige Aufgabe, denn weit und breit lässt sich kein Aktivist blicken, und so gibt er sich seinen Gedanken hin. Auf einmal jedoch fesselt ihn eine sonderbare Frau, die bewegungslos auf einer Bank sitzt. Als sich ihr dann auch noch ein junger Mann in römischer Uniform zugesellt, der sich noch dazu ganz merkwürdig verhält und der Frau beispielsweise ein Croissant klaut und sofort verschlingt, ist Marotti ganz und gar eingenommen von dem Schauspiel, das nun seinen Lauf nimmt.
Die sonderbare Frau auf der Bahnhofsbank ist Lucy, eine erfolgreiche und hochbegabte Dolmetscherin. An diesem Tag sagt sie zum ersten Mal einen Konferenztermin ab. Etwas lähmt sie und hindert sie daran, einfach in einen Zug zu steigen und weiter ihr gewohntes Leben zu führen. Dass ihre Großmutter, ihre verstorbene Zwillingsschwester und ein Brief, den sie in ihrer Handtasche verwahrt hält, mit dieser für sie untypischen Apathie zu tun haben könnten, wird dem Leser bald deutlich. Wie genau aber alles zusammenhängt, entwirrt sich erst nach und nach.
Der Mann im Römerkostüm heißt Simon. Er ist Spross einer erfolgreichen Familie, die mit einem Pharmakonzern zu großem Reichtum gekommen ist. Simon jedoch ist weder erfolgreich noch zielstrebig und versteht auch gar nicht, warum er das sein sollte. Seine Familie fragt sich zunächst nachsichtig, dann aber immer ungeduldiger, was er eigentlich will. So verbindet ihn mit seiner Familie nicht viel und er geht ihr lieber aus dem Weg. Einige Jahre gibt er vor, in Italien für seine Promotion zu recherchieren, und vermeidet jeden Kontakt. Auch hier bleibt es spannend, bis sich die Fragen klären: Wie kommt er ohne Geld und Papiere im Römerkostüm nach Basel? Was hat ihn so erschüttert im Leben? Was treibt ihn zu Lucy, seine Bankgenossin im Bahnhof?
Abwechselnd werden kurze Szenen aus den Perspektiven aller drei Protagonisten erzählt. Darin wird zunächst die Situation im Bahnhof reflektiert, es werden dann aber auch immer wieder Erinnerungen erzählt, die auf die Situation im Bahnhof hinführen und so nach und nach erklären, was sie dorthin getrieben hat und warum sie sich in dieser Nacht nicht so verhalten, wie es von gewöhnlichen Menschen im öffentlichen Raum zu erwarten wäre. Nach dieser Nacht im Bahnhof, so viel darf hier schon verraten werden, verändert sich für alle drei das Leben, und vielleicht beginnen sie danach damit, die Dinge nicht mehr nur „fast“ zu tun.
Alena Heinritz, Mainz