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Als Alicia Western im Sanatorium erwacht, entdeckt sie am Fußende des Bettes erneut den grässlich entstellten Zwerg, dessen Menagerie herbeigerufener Schausteller im Hintergrund lediglich auf sein Zeichen wartet. Doch trotz Alicias Bitte, sie in Ruhe sterben zu lassen, verschwindet die Halluzination nicht. Der Zwerg blickt zu ihr auf, mustert sie eindringlich und grinst. „Tja“, sagt er, „das Leben. Was soll man sagen? Es eignet sich nicht für jeden.“ Dann klatscht er in die flossenartigen Hände, und die absonderliche Truppe tritt aus dem Dunkel ins Licht.
Zehn Jahre später. Der frühere Rennfahrer Bobby Western gilt als Einzelgänger und lebt zurückgezogen in New Orleans, wo er sich zeitweise als Bergungstaucher verdingt. Bobbys Team erhält den Auftrag, vor der Küste nach einem abgestürzten Kleinflugzeug zu tauchen. Sie verschaffen sich mit einem Schneidbrenner Einlass in das Wrack und müssen zu ihrer Verwunderung feststellen, dass nicht nur die Blackbox entwendet worden ist – es fehlt auch ein Passagier. Bobby befindet sich bald schon in ernsthaften Schwierigkeiten. Seine Wohnung wird durchsucht, seine Bankkonten gesperrt und ein Teamkollege kommt in Venezuela unter merkwürdigen Umständen ums Leben.
Es gelingt ihm zwar, seine Verfolger für eine gewisse Zeit hinters Licht zu führen, doch vor den Dämonen seiner Vergangenheit kann er sich nicht verstecken; auch nach zehn Jahren ist die Trauer um Alicia grenzenlos. Das hochbegabte Geschwisterpaar, dessen Vater einst an der Entwicklung der Atombombe beteiligt war, verband seit ihrer Jugend eine inzestuöse Liebesbeziehung, und deshalb kommt Bobby über die Sinnlosigkeit von Alicias Freitod nicht hinweg.
Er driftet mehr und mehr ab, verliert sich in Erinnerungen, Tagträumen – und bald bekommt auch er Besuch von dem Zwerg.
Nach seinem Welterfolg Die Straße hat Cormac McCarthy, einer der größten Schriftsteller unserer Zeit, mit Der Passagier (dessen zweiter Teil unter dem Titel Stella Maris Ende November 2022 erscheinen wird) erneut einen unvergesslichen Roman vorgelegt. Was die Energie und Themenvielfalt des fast 90jährigen betrifft, die Bildgewalt, die er heraufbeschwört, der entlarvende Blick in die tiefsten menschlichen Abgründe sowie seine unvergleichlichen Dialoge, die man wieder und wieder lesen mag, so hat nichts davon in seiner anziehenden Wirkung auch nur im entferntesten nachgelassen.
Axel Vits, Der andere Buchladen, Köln