Zum Buch:
Am 4. September 1928 fand in Scharbeutz an der Ostsee eine denkwürdige, offenbar telegraphisch verabredete mehrstündige Begegnung zwischen dem Hamburger Kunst- und Kulturhistoriker Aby Warburg und dem längst weltberühmten Physiker Albert Einstein statt. Der Anstoß hierzu ging von Warburg aus, der Einstein “den mythisch-bildhaften Urgrund seiner Denkweise einmal zeigen wollte”, wie er es nannte.
Warburg notierte später im Tagebuch der Bibliothek Warburg in Hamburg über die gemeinsam mit Ehefrau Mary und einem Chauffeur der Warburg-Bank unternommene Fahrt: “Mieken und ich mit Kelting nach Scharbeutz zu Einstein gefahren bei schönem (natürlich: ‘relativ’) Wetter. Die einzige Enttäuschung war, daß er offenbar schwer herzleidend ist, sonst trug ihn eine jungenhafte Güte und er nahm meine Vorstellung (mit Photographien) (die wir an den Vorhang der Verandah* anpinnten) wie eine freudige Überraschung auf: er hatte seinen höheren Spaß daran, in das Wesen der Astrologie Einblick zu gewinnen und sah auch die Ambivalenz der intensiven Prägwerte ein und gab ohne weiteres das Erstaunliche Faktum der Dauer der Ausdrucksprägwerte zu. Bei Kepler nickte er in sich hinein und erklärte mir die Entdeckung der Erdbahn durch Mars als seine Höchstleistung (verstand zu wenig)”.
Horst Bredekamp widmete dem bemerkenswerten Austausch, an dem Elsa Staude, eine Bekannte der Familie Einstein, sowie Einsteins Schwester Maja Winteler teilnahmen, bereits 2005 einen Aufsatz, der in Teilen in das jüngst bei Wagenbach erschienene Büchlein “Warburg, Cassirer und Einstein im Gespräch” eingeflossen ist. Zur inhaltlichen Erweiterung tragen die Abschnitte über Warburgs Forschungsinteressen in den 1920er Jahren bei, die Claudia Wedepohl beigesteuert hat. Die Fresken des Palazzo Schifanoia in Ferrara, Platons Modell der Weltachse als Spindel und Johannes Kepler als “Übergangstype zwischen mythischem und mathematischem Denken”, wie Warburg 1927 schrieb, spielen hier eine Rolle. Bedeutsam ist eine im Zuge von Ordnungsarbeiten im Archiv des Londoner Warburg Institute aufgetauchte Skizze zur Erläuterung der Berechnung der Umlaufbahn des Mars von der Hand Einsteins mit einem knappen Kommentar Warburgs, die Bredekamp vor zehn Jahren noch nicht kennen konnte.
Für Warburg-Spezialisten enthält das vorliegende Buch unter anderem eine Reihe biographisch aufschlussreicher Briefzitate aus Warburgs Zeit im Sanatorium in Kreuzlingen am Bodensee, die zeigen, was im Detail im Londoner Archiv noch zu heben ist. Thema ist hier unter anderem der Besuch des Philosophen Ernst Cassirer in Kreuzlingen am 10. und 11. April 1924, der für Warburg außerordentlich ermutigend verlief und vielleicht seine Rückkehr nach Hamburg wenige Monate später förderte. Auch für den Kontext des unvollendeten Bilderatlasses, an dem Warburg seinerzeit intensiv arbeitete, bietet der schmale Band einige Informationen.
“Warburg, Cassirer und Einstein im Gespräch” sucht freilich im zweiten Kapitel nach einem geistesgeschichtlichen Mehrwert, für den, was Warburg und Einstein betrifft, Anhaltspunkte nur eher vage zu erkennen sind. Warburg selbst notierte realistisch in einem Brief an seinen Mitarbeiter Fritz Saxl: “Nur bei Kepler und der Ellipse habe ich, glaube ich, nicht gut bestanden; sonst war er mit mir zufrieden.” Vermutlich waren die Standpunkte und Denkweisen einfach zu unterschiedlich für mehr als eine lebendige Unterredung.Warburgs Besuch in Scharbeutz reduziert sich dadurch nicht auf bloßen “intellektuellen Tourismus”, aber für einen wirklichen Austausch fehlten die Voraussetzungen, da Einstein sich nicht auf Warburgs Vorstellungen von “energetischen Ambivalenzen” von Symbolen und einer “zahlenmäßig verfestigten Denkraumschöpfung zwischen Objekt und Subjekt” einzulassen bereit war.
In einem Artikel Einsteins über Kepler in der “Frankfurter Zeitung” vom November 1930, den der Schluss behandelt (leider ohne den eigentlichen Text Einsteins in lesbarer Größe abzubilden oder ihn einfach vollständig abzudrucken), findet sich womöglich in der bipolaren Bestimmung Keplers als Empiriker und Hypothesenbildner eine “abgeschwächte Variante” dessen, worüber Warburg mit Einstein rund zwei Jahre zuvor an der Ostsee gesprochen hatte. Warburg hat das Erscheinen dieses Zeitungsartikels allerdings nicht mehr erlebt; er war im Oktober 1929 in Hamburg einem Herzversagen erlegen.
*Die Originalschreibweisen wurden belassen.
Björn Biester, Welterod