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Autor
De Luca, Erri

Montedidio

Untertitel
Roman. Aus dem Italienischen von Anette Kopetzki
Beschreibung

Am Tag arbeitet der 13-jährige Junge in der Schreinerwerkstatt Meister Erricos, wo auch der Schuhmacher Don Rafaniello seine Werkbank hat. Rafaniello hat einen Buckel und behauptet, darunter befänden sich Flügel, mit denen er einst ins gelobte Land fliegen würde.

Jeden Mittag steigt er hinauf auf die Dachterrasse des Mietshauses, in dem er mit seinen Eltern lebt, um mit einem Bumerang, den ihm sein Vater geschenkt hat, zu trainieren. Abends trifft er dort die gleichaltrige, aber schon viel erwachsenere Maria. In der Sylvesternacht ist es dann so weit: der Junge wird seinen Bumerang werfen und Rafaniello die Flügel ausbreiten …

Montedidio erzählt, wie ein Junge in ein paar Monaten erwachsen wird. Ruhig, klar, bewegend, eindrücklich wie ein neorealistischer Film – nur gänzlich undramatisch. Beeindruckend!
(ausführliche Besprechung unten)

Verlag
Graf Verlag, 2012
Format
Gebunden
Seiten
217 Seiten
ISBN/EAN
9783862200313
Preis
14,99 EUR

Zur Autorin/Zum Autor:

Erri De Luca, geb. 1950 in Neapel, begann erst mit vierzig zu schreiben. Als Autodidakt lernte er Hebräisch und übersetzte Teile der Bibel neu. Heute zählt er zu den meistgelesenen Schriftstellern Italiens. Seine Romane haben Kultstatus und sind auch in Israel und Frankreich Bestseller. In Deutschland wurde ‘Der Tag vor dem Glück’ in der Presse begeistert gefeiert. 2010 erhielt Erri De Luca den Petrarca-Preis.

Zum Buch:

Neapel, Ende der 50er Jahre. Der 13-jährige Ich-Erzähler lebt im Stadtviertel Montedidio, wie der „Berg des Herrn“ im neapolitanischen Dialekt heißt, einem Viertel der kleinen Leute. Nach nur fünf Schuljahren beginnt er eine Lehre beim Schreiner Enrico. Er ist damit einverstanden, dass er jetzt Geld verdienen muss, den Vater und die kranke Mutter unterstützt. Immerhin hat sein Vater, der sich Lesen und Schreiben in Abendkursen der Genossenschaft beigebracht hat, ihn zwei Jahre länger lernen lassen, als es die gesetzliche Schulfrist vorschreibt. Und er hat Wert darauf gelegt, dass er die italienische Sprache lernt und nicht nur den heimischen Dialekt spricht. So arbeitet er jetzt in der Schreinerwerkstatt, in der auch der Schuster Don Rafaniello seine Werkbank hat.

Mittags geht der Junge auf das Dach des Hauses, demn höchsten Punkt des Viertels. Sein Vater hat ihm einen Bumerang mitgebracht. Dieses seltsame Stück Holz ist sein wertvollster Besitz, ihn mit einem gewaltigen Wurf freizulassen, sein großes Ziel. Hundertmal mit der rechten, hundertmal mit der linken Hand übt er die Abwurftechnik, ohne das Holz loszulassen, und spürt dabei, wie seine Muskeln wachsen und seine körperliche Geschicklichkeit zunimmt, wie sein Wille stärker wird. Abend für Abend notiert er seine Erfahrungen auf einer langen Papierrolle

Abends trifft er auf dem Dach das Mädchen Maria. Sie ist gleichaltrig, doch ungleich erwachsener. Beide zieht es in ihrer Einsamkeit zueinander. Während der Junge in den letzten Lebenswochen seiner Mutter keinen Zugang zu der engen und liebevollen Gemeinschaft der Eltern findet, sind Marias Eltern damit beschäftigt, das finanzielle Chaos, in das sie durch ihre Spielleidenschaften geraten sind, mehr schlecht als recht zu vertuschen. So schicken sie, wenn sie die Miete nicht bezahlen können, Maria zum Hausbesitzer, der sie sexuell ausbeutet. Die beiden früh erwachsenen Kinder erklären sich zu Mann und Frau.

Dann ist da noch Don Rafaniello, der Schuster mit den begnadeten Händen, der noch das kümmerlichste Paar Schuhe reparieren kann. Während des Krieges ist er, aus Nordeuropa kommend und knapp der Ermordung entgangen, auf dem Weg nach Palästina in Neapel hängen geblieben. In seinem großen Buckel, so erklärt er dem Jungen, wachsen ihm Flügel mit denen er, wenn es so weit ist, ins gelobte Land fliegen wird.

In der Sylvesternacht ist es so weit: der Junge wird seinen Bumerang werfen und Rafaniello die Flügel ausbreiten …

Montedidio ist ein Entwicklungsroman ganz eigener Art. Er schildert, wie sich ein Junge innerhalb weniger Monate selbst entdeckt und zum Mann wird. Mit einer ruhigen Selbstverständlichkeit, ohne Sentimentalität nimmt er das Leben, wie es kommt. Wach und bewusst sieht er die Menschen und das Geschehen um sich herum und findet darin seinen eigenen Weg. Erri de Luca hat dafür eine wunderbare Sprache gefunden. Schnörkellos, frei von jedem Sozialkitsch, voller karger Poesie. Den Text durchziehen Sätze im neapolitanischen Dialekt, und geben einen Eindruck von dessen Lebendigkeit und Kraft.

Das Buch ist erstmals 2004 unter dem Titel „Ich bin da“ bei Rowohlt erschienen. Hoffentlich sind ihm jetzt, da de Luca auch hier bekannter wird und mit seiner großartigen Erzählung „Das Gewicht des Schmetterlings“ zumindest bei der Kritik einen Erfolg errungen hat, viele Leser vergönnt. Ich wünsche es ihm!

Ruth Roebke, autorenbuchhandlung marx & co, Frankfurt