Zum Buch:
»Verdammt nochmal, ich wünschte, wir hätten alle die Courage, unsere Verteidigung auf vier einfache Worte zu beschränken: Leckt mich am Arsch!«
Als der fettleibige und drogenabhängige Hermann Göring, der früherer Reichsmarschall, diesen Kommentar von sich gab, war der Krieg längst vorbei und er saß, gemeinsam mit anderen Nazigrößen wie Hess, Ribbentropp, Speer und Streicher auf der Anklagebank in Nürnberg, wo der erste Kriegsverbrecher-Prozess stattfand. Doch bevor der von der ganzen Welt mit Spannung erwartete Prozess überhaupt stattfinden konnte, musste geprüft werden, ob die Angeklagten überhaupt fähig waren, ihm beizuwohnen bzw. ihn durchzustehen, standen sie doch unter enormer Belastung. Hierzu wurde eigens ein Psychiater aus den Staaten eingeflogen, der junge Captain Douglas M. Kelley. Er hatte, wie kaum ein anderer, uneingeschränkten Zugang zu den Inhaftierten, die in einem speziellen Hochsicherheitstrakt untergebracht waren, und er führte unzählige Gespräche mit ihnen, im Besonderen mit Göring. Dem Arzt bot sich hier die einmalige Chance herausfinden, ob das Motiv für ihre Taten womöglich psychotischer Natur war oder ob sich diese Tragödie auch in anderen Ländern, beispielsweise in den USA, hätte zutragen können.
Er kam zu dem Schluss, dass Letzteres der Fall war.
Göring entging seinem Urteilsspruch, indem er trotz der enorm hohen Sicherheitsbestimmungen Zyankali schluckte. Kelley reiste zurück in die Staaten, schrieb ein Buch und hielt im ganzen Land Vorträge. Weder seine Familie noch seine Kollegen ahnten etwas von den schweren psychischen Problemen, mit denen er zu kämpfen hatte, und am Neujahrstag 1958 beging er Selbstmord – indem er Zyankali schluckte.
„Der Nazi und der Psychiater“ ist eines der Bücher, die die Reihe Die Andere Bibliothek zu etwas so Außergewöhnlichem machen. Bücher, auf die der Leser ansonsten wohl niemals stoßen würde. Wenn man liest, was die ranghöchsten Nazis, allen voran Göring, in ihren Gesprächen mit Kelley für einen bodenlosen Blödsinn von sich geben, wie sie sich gebärden, ob kleinlaut und heulend oder anbiedernd und größenwahnsinnig, dann kommt man nicht umhin, sich wieder und wieder zu fragen, wie es passieren konnte, dass solche Schlappschwänze und Idioten soviel Unheil über die Menschheit bringen konnten. Man glaubt es einfach nicht.
Axel Vits, Der andere Buchladen, Köln