Alle Empfehlungen

Drucken

Alle Empfehlungen

Autor
Šteger, Aleš

Archiv der toten Seelen

Untertitel
Roman. Aus dem Slowenischen von Matthias Göritz
Beschreibung

Klar, die meisten wissen wenig über Maribor. Aber ist die Führungsriege der Stadt tatsächlich an einer okkulten Geheimbewegung beteiligt, die sich von Wahrsagerinnen beraten lässt und mit zwitschernden Schweinen spazieren geht? Aleš Štegers Roman „Archiv der toten Seelen“ zieht dem Leser den Boden unter den Füßen weg und mischt auf Bulgakowsche Manier Magie und Politik.
(ausführliche Besprechung unten)

Verlag
Schöffling Verlag, 2016
Format
Gebunden
Seiten
336 Seiten
ISBN/EAN
978-3-89561-446-0
Preis
22,95 EUR

Zur Autorin/Zum Autor:

Aleš Šteger, geboren 1973, ist der bekannteste slowenische Autor seiner Generation. Er studierte Vergleichende Literaturwissenschaft und Germanistik in Ljubljana und veröffentlichte bislang fünf Lyrik- sowie mehrere Prosabände. Für seine Werke erhielt Šteger zahlreiche Auszeichnungen. Außerdem übersetzt er aus dem Deutschen, Englischen und Spanischen, u. a. Werke von Gottfried Benn, Peter Huchel und Ingeborg Bachmann.

Zum Buch:

Klar, die meisten wissen wenig über Maribor. Aber ist die Führungsriege der Stadt tatsächlich an einer okkulten Geheimbewegung beteiligt, die sich von Wahrsagerinnen beraten lässt und mit zwitschernden Schweinen spazieren geht? Aleš Štegers Roman „Archiv der toten Seelen“ zieht dem Leser den Boden unter den Füßen weg und mischt auf Bulgakowsche Manier Magie und Politik.

Aleš Šteger ist einer der meistbeachteten Lyriker und Prosaautoren Sloweniens. Orte und ihre Atmosphären haben für seine Arbeit eine ganz besondere Bedeutung. Einmal im Jahr veranstaltet er eine Schreibperformance, bei der er an einem ausgewählten Ort öffentlich schreibt. So entstanden schon Texte in Japan, Mexiko und Indien. Sein Roman „Archiv der toten Seelen“ ist aber mehr als eine subtile Auseinandersetzung mit dem genius loci der slowenischen Stadt Maribor.

Der ehemalige Dramaturg Adam Bely und seine Assistentin, die Journalistin Rosa Portero, geben vor, für eine Reportage des ORF über die Stadt Maribor zu recherchieren, die im Jahr 2012 Kulturhauptstadt Europas ist. In Wirklichkeit aber haben sie das Ziel, eine Geheimgesellschaft auszuschalten, deren dreizehn Mitglieder die Fäden in der Stadt ziehen. Mit Menschenkenntnis, Belys Maribor-Erfahrungen und der Hilfe von Scientology-Methoden wie „Auditing“ mit einem „E-Meter“ entlarven sie ein Mitglied nach dem anderen. Um die Mitglieder der Gesellschaft auszuschalten, muss ihnen „vergeben“ werden, damit die in ihren Körpern gefangenen Seelen aus vergangenen Leben erweckt und befreit werden können. Die Folgen einer solchen Vergebung sind so erstaunlich wie skurril. Dass Bely und Portero bei ihrer Suche aber den wichtigsten Strippenziehern der Stadt begegnen, macht Štegers Roman auch zu einer Satire über die Machtverhältnisse in Maribor.

Nicht zufällig ist gerade Karnevalszeit. Aber die Masken auf den Straßen sind nur ein blasser Abklatsch der grotesken Gestalten, denen Bely und Portero auf ihren täglichen Untersuchungen begegnen. Teils wirken sie wie den Romanen Boris Vians entsprungen, teils überzeichnen sie humorvoll die Tradition der Maske in der Tradition des Karnevalesken oder des grotesken Theaters. Dass es sich bei diesen Gestalten nicht um subversive Ausnahmen, sondern um die Normalität in Štegers Maribor zu handeln scheint, macht sie umso unheimlicher.

Die Nähe zum Theaterstück legt der Roman in seinem Aufbau bereits von Anfang an nahe. Die Figuren – fast alle haben sprechende Namen – werden zunächst in einem Personenverzeichnis als „Dramatis Personae“ vorgestellt. Auch die Kapitel folgen wie Szenen aufeinander. Schließlich kommt es bei einer Opernaufführung im Theater der Stadt zum gewaltigen Showdown. Als dann aber eine Figur mit dem Namen Aleš Šteger als Verantwortlicher für die Kulturveranstaltungen in der Stadt einen Auftritt bekommt, saust es dem Leser in den Ohren. So verschwimmen die Realitätsebenen immer mehr, und nicht nur die Leser, sondern auch die Protagonisten müssen sich schließlich fragen: handelt hier eigentlich noch irgendjemand aus freien Stücken, und wo steckt eigentlich der gewaltige Regisseur, der Maribor zum Schauplatz eines grotesken Schauspiels gemacht und die Auf- und Abtritte seiner Figuren minutiös geplant hat?

Durch die geschickt konstruierte Verschränkung der Geschichte von der Aufdeckung politischer Ränke und Korruption einerseits und der grotesken Verschwörung böser Mächte andererseits bekommt beides den gleichen Grad an Wirklichkeit. Štegers Roman wird dadurch zu einem spannenden und zugleich poetisch-humorvollen Politthriller, der vor dem Metaphysischen nicht haltmacht.

Alena Heinritz, Mainz