Zum Buch:
Wir drei ist die Familienautobiografie der chinesischen Autorin, Literaturwissenschaftlerin und Übersetzerin Yang Jiang (1911-2016). Im Zentrum steht dabei das Zusammenleben mit ihrem Mann, dem Literaturwissenschaftler und Autor Qian Zhongshu, und der gemeinsamen Tochter, der Anglistin Qian Yuan. Nachdem bereits 2012 eine zweisprachige Ausgabe in der Übersetzung von Monika Motsch im Ostasien Verlag erschienen ist, hat nun Motsch die Erzählung der 92-jährigen aus dem Jahr 2003 in einer wunderschönen Ausgabe bei Matthes & Seitz neu herausgegeben. Die Übersetzerin kannte die Familie und hat deshalb tiefe Einblicke in das Familienvokabular und die Zusammenhänge. Sorgfältig aufbereitet ist dieser Band von ihr mit einer ausführlichen Biografie der Autorin, einem Werkverzeichnis, Zeichnungen, Gedichten und Briefen der Familie und einer sehr hilfreichen Kommentierung des Textes.
Das Buch beginnt mit einer traumartigen Sequenz. Hier schildert die Autorin Krankheit und Sterben ihres Mannes und ihrer Tochter als bürokratischen Albtraum. Mitten ins glückliche Familienleben voller liebevoller Neckereien und innigem Zusammensein zu dritt kommt ein Anruf, der den Mann zu einer Versammlung ruft. Frau und Tochter reisen ihm nach und finden ihn krank und entkräftet in einem Boot vor der Alten Poststraße. Hier herrschen strenge Regeln, und es dürfen keine Fragen gestellt werden. Tagsüber können Ehefrau und Tochter den Mann besuchen, nachts kommt die Erzählerin in einer Herberge an der Alten Poststraße unter, die Tochter muss zurück in die Stadt, um an der Universität zu unterrichten. Aber jeden Morgen, wenn die Erzählerin das Boot sucht, in dem ihr Mann dahinsiecht, findet sie es erst nach einem langen Fußmarsch flussabwärts. Sie kehrt in einer Herberge, die der vorherigen gleicht, neben dem Boot ein, und doch wiederholt sich die Suche an jedem neuen Tag. Eines Tages kehrt die Tochter nicht mehr wieder, sie sei ebenfalls krank, heißt es. Von nun an besucht die Mutter tagsüber ihren Mann und nachts in ihren Träumen ihre Tochter im Krankenhaus und muss mitansehen, wie diese immer mehr an Kräften verliert und schließlich stirbt. Und dann gelangt sie eines Tages nicht mehr zu dem Boot ihres Mannes, sondern sieht es nur noch in der Ferne davonfahren.
So traurig das Buch beginnt, so fröhlich erzählt Yang Jiang nun die Geschichte ihrer Familie von den 1930er Jahren bis zum Tod von Ehemann und Tochter Ende der 1990er Jahre. Während des Studiums der Politikwissenschaft lernt sie ihren Mann Qian Zhongshu kennen. Gemeinsam geht das Paar zum Studium nach Oxford, wo ihre Tochter Qian Yuan geboren wird. Jiang schildert die intellektuelle Neugier des Paars, die Versuche der beiden Buchmenschen, neben dem Studium den Haushalt zu führen (was oft zu komischen Situationen führt), ihre gemeinsamen Lektüreerlebnisse, den Austausch über Literatur und ihre trotz aller Widrigkeiten hartnäckige Begeisterung. Nach einem weiteren Jahr des Studiums an der Sorbonne in Paris kehrt die Familie 1938 nach China zurück, um während des Japankriegs bei ihren Verwandten zu sein. Während Zhongshu immer wieder für lange Zeiträume fort ist um an verschiedenen Universitäten zu unterrichten, bleibt Jiang mit der Tochter bei der Verwandtschaft in Shanghai, unterrichtet an einer Schule, schreibt Theaterstücke und kümmert sich um die Erziehung des Kindes. Yuan erweist sich als Wunderkind, das mit nicht mal drei Jahren bereits Schriftzeichen lesen kann und voller Wissbegier Zusammenhänge erkennt, die den Erwachsenen entgehen.
Ab 1949, der Gründung der Volksrepublik China unter Mao Zedong, arbeiten Zhongshu und Jiang beide an Universitäten in Beijing und erlangen soziales Prestige durch ihre Arbeit an der Übersetzung der Gedichte Maos. Aber die Gunst der Parteiführung ist unbeständig. Von 1953 bis 1977 bedrohen politische Kampagnen immer wieder nicht nur ihre akademische Karriere, sondern auch ihre Lebensgrundlage; zwei Jahre lang lebt die Familie in einem Büroraum der Universität, sie muss „Umerziehung“ und Arbeitslager über sich ergehen lassen, bevor sie 1977 rehabilitiert wird. Es ist beeindruckend zu lesen, wie Jiang und ihre Familie trotz aller Widrigkeiten zuversichtlich und irgendwie auch frei bleiben, begeistert arbeiten, Halt ineinander finden und ihren speziellen Familienhumor bewahren, gemeinsame Spaziergänge zu „Abenteuerexpeditionen“ erklären und miteinander Freude an Blödeleien und literarischen Spitzfindigkeiten haben.
Während der Kulturrevolution gibt Yang Jiang das Schreiben aus der berechtigten Sorge heraus auf, damit Angriffspunkte für die willkürliche politische Verfolgung zu liefern. Stattdessen beginnt sie zu übersetzen. Sie lernt Spanisch und übersetzt Cervantes’ Don Quijote, eine Arbeit, die ihr in China und darüber hinaus viel Anerkennung einbringt. Erst nach dem Tod von Ehemann und Tochter Ende der 1990er Jahren beginnt sie, trotz aller Widerstände, wieder mit dem Schreiben. Das nun auf Deutsch vorliegende Buch Wir Drei ist in diesem Zusammenhang entstanden. Über dieses Buchprojekt hatte sie schon zuvor nachgedacht, aber als ihre Tochter krank wurde, bat sie die Mutter, ihr den Titel abzutreten, um selbst ihre Geschichte der Familie zu schreiben. Daran arbeitete sie trotz schwerer körperlicher Beeinträchtigungen bis zu ihrem Tod. Das Fragment ist in Motschs Übersetzung im Anhang des Romans abgedruckt und ergänzt – zusammen mit den Zeichnungen, Briefen und Gedichten, die die drei Familienmitglieder untereinander ausgetauscht haben – die Erzählung aufs Wunderbarste.
Jiangs Buch erzählt nicht nur die Geschichte einer Familie, die kreativ mit den zum Teil sehr schweren historischen Gegebenheiten umgeht. Es geht auch nicht nur darum, wie es ist, Krankheit und Tod der Nächsten zu überstehen. Vielmehr geht es ganz zentral um die Begeisterung für die stille hingebungsvolle Arbeit mit und an Texten und den fröhlichen Austausch darüber. In Jiangs klarer Sprache voller Anspielungen, die die Übersetzerin und Herausgeberin sorgsam aufbereitet hat, ist das wunderbar zu lesen.
Alena Heinritz, Innsbruck