Zum Buch:
1954 erklärte der Oberste Gerichtshof der USA die Rassentrennung an Schulen für verfassungswidrig, mehrere der Südstaaten ignorierten jedoch das Gesetz und verboten Schwarzen weiterhin den Zutritt zu „weißen“ Schulen. In Arkansas hinderte 1957 die Nationalgarde Schwarze Schüler*innen daran, eine Schule für Weiße zu betreten. Daraufhin entsandte Präsident Eisenhower 1000 Soldaten, die neun Schwarze Schüler vor dem aufgebrachten weißen Mob schützten und sie in die Schule geleiteten. Die Bilder der Schüler, die durch die wütende Menge liefen, gingen um die Welt, die Bewunderung für ihren Mut war groß.
1957 schrieb die 1933 nach Frankreich geflohene und 1941 in die USA eingewanderte jüdische Philosophin Hannah Arendt den Essay Reflections on Little Rock. Darin vertritt sie u.a. die Meinung, es sei für den Kampf gegen die Ungleichheit zwischen Schwarzen und Weißen wichtiger, das Verbot der Mischehe gesetzlich aufzuheben, als in den – wie sie meinte – privaten Bereich von Erziehung und Bildung einzugreifen. Schwarze Eltern sollten Kämpfe gegen die Rassentrennung nicht von ihren Kindern austragen lassen. Die Redaktion der Zeitschrift Dissent lehnte den Text zunächst ab, mit einer Vorrede erschien er dann 1959 und stieß auf heftige Kritik.
In jüngster Zeit ist ein kurzer Brief aufgetaucht, den Hannah Arendt 1965 an den schwarzen Autor Ralph Waldo Ellison schrieb. Ellison hatte Arendt in einem Interview, das im März des gleichen Jahres in dem Buch Who Speaks for the Negro abgedruckt war, vorgeworfen, sie habe „tatsächlich (…) keine Ahnung, was in den Köpfen schwarzer Eltern vor sich geht, wenn sie ihre Kinder durch solche feindselige Linien schicken“. In dem nur zwanzig Zeilen umfassenden Brief räumt Arendt ein, erst jetzt zu erkennen, „dass ich die Komplexität der Lage schlicht nicht verstanden habe.“ Eine Antwort von Ellison ist nicht bekannt, der Brief blieb in jeder Hinsicht folgenlos, gilt aber als eine Revision des „Little-Rock-Essays“. Marie Luise Knott, langjährige Herausgeberin von Arendts Schriften und Autorin einer Biographie über sie, hat den Brief 2020 in den USA gelesen und stellt eine zentrale Frage: „(…) was revidiert Arendt hier eigentlich?“
Knotts Buch liest sich, als würde die Autorin die Debatte führen, die nach dem Brief – von dem unklar ist, ob er den Adressaten überhaupt erreicht hat – nie in Gang kam. Sie vergleicht die Standpunkte, Erfahrungen und Lebenswelten beider Autoren, die der jüdischen, durch die Immigration dem Holocaust entgangenen Philosophin mit denen des afroamerikanischen Autors, dessen Alltag immer noch von der Sklaverei geprägt ist. Beide haben eine jahrhundertelange Geschichte von Ausgrenzung, Unterdrückung und Gewalt als Hintergrund, und Knott umkreist, wie die unterschiedlichen – und gleichartigen – Erfahrungen ihre Sicht auf den Konflikt um Little Rock geprägt haben. Vieles in dem Buch ist von erschreckender Aktualität, es könnte aus den heutigen Debatten über Folgen von Sklaverei und Kolonialismus, über „Black Lives Matter“ und die Vergleichbarkeit historischer Erfahrungen stammen.
370 Riverside Drive 730 Riverside Drive – was es mit der Umkehrung der Nummern auf sich hat, ist eine eigene kleine Geschichte und würde hier zu weit führen – ist ein äußerst komplexer Text, und dass es Marie Luise Knott gelingt, daraus eine fesselnde und leicht zu lesende, erhellende Lektüre zu machen, ist wahrhaftig ein Kunststück.
Ruth Roebke, Frankfurt