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Autor
Melle, Thomas

3000 Euro

Untertitel
Roman
Beschreibung

Auf der Shortlist zum Deutschen Buchpreis 2014

„‚Und wie sind Menschen wie wir?’“ fragt Denise während eines Waldspaziergangs ihren Begleiter. „Daraufhin lächelt Anton nur. ‚Anders’, sagt er. ‚Oder eben: so ein bisschen am Rand … Oder schon über den Rand hinaus’“. Um die flüchtige Beziehung, die Denise und Anton eingehen, dreht sich Thomas Melles großartiger Roman „3000 Euro“, sein zweiter Wurf nach dem Debüt „Sickster“ von 2011. Denise sitzt tagein, tagaus hinter einer Supermarktkasse im Berlin unserer Gegenwart, damit sie ihre kleine Tochter über die Runden bringen kann. Von der Gage für einen Pornodreh verspricht sich Denise eine Erleichterung ihres an Behördengängen und Enttäuschung reichen Lebens. Dreitausendzweihundert Euro hat ihr der Produzent in Aussicht gestellt. Aber das Geld lässt auf sich warten.
(ausführliche Besprechung unten)

Verlag
Rowohlt Berlin, 2014
Format
Gebunden
Seiten
208 Seiten
ISBN/EAN
9783871347771
Preis
18,95 EUR

Zur Autorin/Zum Autor:

Thomas Melle, 1975 in Bonn geboren, studierte Vergleichende Literaturwissenschaft und Philosophie in Tübingen, Austin (Texas) und Berlin. Er gehört zu den wichtigsten jungen deutschen Theaterautoren. 2007 erschien Thomas Melles Prosadebüt, wofür er 2008 den Förderpreis zum Bremer Literaturpreis erhielt. Thomas Melle lebt in Berlin.

Zum Buch:

„‚Und wie sind Menschen wie wir?’“ fragt Denise während eines Waldspaziergangs ihren Begleiter. „Daraufhin lächelt Anton nur. ‚Anders’, sagt er. ‚Oder eben: so ein bisschen am Rand … Oder schon über den Rand hinaus’“. Um die flüchtige Beziehung, die Denise und Anton eingehen, dreht sich Thomas Melles großartiger Roman „3000 Euro“, sein zweiter Wurf nach dem Debüt „Sickster“ von 2011. Mit ihrer literarischen Vorläuferin Luise Pogge, besser bekannt als Pünktchen, verbindet Denise nur das Echo der Vornamen. Sie entstammt keiner wohlhabenden Familie, sondern sitzt tagein, tagaus hinter einer Supermarktkasse im Berlin unserer Gegenwart, damit sie ihre kleine Tochter über die Runden bringen kann. Von der Gage für einen Pornodreh verspricht sich Denise eine Erleichterung ihres an Behördengängen und Enttäuschung reichen Lebens. Dreitausendzweihundert Euro hat ihr der Produzent in Aussicht gestellt. Aber das Geld lässt auf sich warten.

Auch Anton wartet, auf den Beginn des Prozesses in einer Woche, der ihm wegen angehäufter Schulden gemacht wird. Dabei würden dreitausend Euro schon genügen, um aus dem Gröbsten wieder herauszukommen. Wenn er zurückschaut, wundert er sich. Die Voraussetzungen waren doch gut gewesen. Er hatte Freunde, Geld und ein „blendendes Gutachten“ seines Jura-Professors in der Tasche. Dann ging es mit ihm jedoch auf einmal bergab, während der Schuldenberg wuchs. Zu viele durchfeierte Nächte, zu wenig Selbstkontrolle. Letzte Station: Obdachlosenheim. Die Flaschen, die er aus purer Not sammelt, setzt er im Supermarkt in Tiefkühlpizzen um. Dort knüpft er zaghaft Kontakt zu Denise: „Denise hat ihn auf ganz eigene Weise berührt, und vielleicht beruht das auf Gegenseitigkeit“.

Die Relevanz dieser anrührenden Liebesgeschichte liegt vor allem in ihrer sozialen Verortung. Indem sie von Menschen aus prekären Verhältnissen erzählt, gibt sie denjenigen eine nachdrückliche Stimme, die im Alltagsgeschäft kaum Gehör finden. Sowohl für zwischenmenschliche Kommunikation als auch für das Selbstgespräch besitzt Melle ein erschütterndes Gespür. Er ist nah dran an den Gefühlen und Ängsten, der inneren Zerrissenheit seiner Figuren, wirbt um Empathie, ein Meister der erlebten Rede, die bei aller Nähe respektvolle Distanz bewahrt. Sind die Gedanken aber erst entblößt, bricht das Niederträchtige und Selbstsüchtige, wovor auch Denise und Anton naturgemäß nicht gefeit sind, umso schonungsloser wie eine Flut über den Leser herein.

Dieser Vergleich bietet sich deshalb an, weil das Bild der Gezeiten die Thematik des Romans zu illustrieren hilft. Der Geldbetrag, der im Titel steht, spielt freilich eine wichtige Rolle. Anton versucht, auf verschiedenen Wegen an eine solche Summe zu kommen. Aber Geld ist in diesem Fall nicht alles. Haben oder Nicht-Haben, das ist hier nicht die einzige Frage. Den Roman interessiert noch etwas anderes, was damit zwar eng verknüpft ist, sich jedoch nicht darin erschöpft. Anto hat ein Faible für alte Folgen der Harald-Schmidt-Show zwischen den Jahren 2001 und 2003. „Eigentlich lebt er, kulturell gesehen, noch immer in dieser Zeit.“ Er ist also in gewisser Hinsicht aus der Zeit gefallen. Das hat auch Folgen für seine Wahrnehmung der Gesellschaft.

Antons Rede vom Rand, an dem er Denise und sich stehen sieht, ist eine bekannte soziologische Metapher. Melles Text unterzieht sie einer zeitgemäßen Revision. Bewegen sich die Flaschensammler und die Bettler nicht mitten in den Städten, in unseren Einkaufszentren, durchsuchen die Abfalleimer, neben denen wir zufällig stehen? Der Roman markiert sehr deutlich einen Zusammenhang zwischen Wahrnehmung und Gezeiten-Metaphorik: „Flut statt Ebbe, Blick nach vorn statt Blick zurück“, empfiehlt der Friseur Denise. „Er war aufgetaucht und wieder weggesunken“, denkt sie am Ende über Anton. Von der Frage, ob man Beachtung findet, hängt aber nichts Geringeres als die menschliche Würde ab. Als Anton von dem letzten Freund, der ihm geblieben ist, einen ausgedienten Anzug geschenkt bekommt, fühlt er sich wie verwandelt: „Und wie die Reaktionen der Leute sich verändert haben! Er wird wieder gesehen. Blicke bleiben an ihm hängen.“ Menschen wie Denise und Anton stehen nicht nur am Rand, sondern sind den Gezeiten der sozialen Anerkennung schutzlos ausgeliefert. Deren Rhythmus wird allerdings nicht von der Natur, sondern von gesellschaftlichen Kräften bestimmt. Während der Anton ohne Anzug auf den Straßen in einer Flut verschwindet, einem Gebräu aus Dünkel, Gleichgültigkeit und Abstiegsängsten, herrscht vor den Kontrollorganen der Ämter und Behörden ewige Ebbe: Alles muss offen liegen, nichts darf verborgen bleiben. Nicht zuletzt dagegen protestiert Anton: „Nein, er will nicht mehr begutachtet werden“.

Malte Kleinjung, Frankfurt am Main