Zum Buch:
“Wir sagten Vati. Er wollte das so. Er meinte, es klinge modern. Er wollte vor uns und durch uns einen Mann erfinden, der in die neue Zeit hineinpasste.” So beginnt Monika Helfer ihren neuen Roman, der die Geschichte ihrer Familie fortsetzt, die sie mit dem Bestseller Die Bagage begonnen hatte. Ging es dort vor allem um ihre Mutter, wendet sie sich jetzt dem Vater zu, Josef, der, kriegsversehrt und kriegstraumatisiert, um seinen Platz in der „neuen Zeit“ kämpft. Den scheint er, der eigentlich Chemie studieren wollte, im Kriegsopfer-Erholungsheim in den österreichischen Bergen zunächst gefunden zu haben. Die Stelle als Leiter verleiht Ansehen, die vier Kinder wachsen in einer idyllischen Natur auf, und auch das Verhältnis zu seiner Frau ist liebevoll und zärtlich. Mit anderen Worten: Man ist wieder wer, und man passt in die Zeit. Aber die Vergangenheit lässt sich nicht ausblenden und holt die Menschen auf manchmal absurde Weise wieder ein. Ausgerechnet Josefs Liebe zu Büchern wird ihm zum Verhängnis: Weil er aus der wertvollen Bibliothek, die er mit Hilfe eines Gönners nominell für das Erholungsheim, in Wirklichkeit aber für sich aufgebaut hat, Bücher für sich abgezweigt hat, fürchtet er, als Bücherdieb gebrandmarkt zu werden und macht einen Selbstmordversuch. Die Familie zerbricht, die Mutter stirbt an Krebs und die Kinder werden auf die Verwandtschaft verteilt.
Keine schöne Geschichte, könnte man sagen, aber so wird sie ja auch nicht erzählt. Monika Helfer erzählt nicht linear, sondern umkreist die Geschichte ihres Vaters, mal ganz nah dran, mal aus nötiger Distanz. Sie geht Spuren nach, sucht bei Geschwistern und Verwandten nach Erinnerungen und Erklärungen, vor allem aber nach Verständnis. Autofiktion ist kein einfaches Genre; die kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Familie, dem eigenen Leben verlangt Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit. Das gelingt nicht immer, aber in Vati ist es gelungen. Helfer zeichnet ein zutiefst zärtliches Portrait eines Mannes, der wie so viele Kriegsheimkehrer über seine Erlebnisse und damit auch über seine Gefühle nicht sprechen konnte und sich deshalb in die Welt der Bücher flüchtete.
„Wir alle haben uns sehr bemüht“, lautet der letzte Satz – und besseres kann man über den Umgang mit einem Menschen wohl kaum sagen. Dieses Bemühen zieht sich durch das ganze Buch und macht seinen ganz eigenen Sog aus. Sehr zu empfehlen.
Irmgard Hölscher, Frankfurt