Zum Buch:
Die den Band eröffnende Titel-Story führt einen eher muffeligen Bäcker mit schmuddeliger Bäckerei vor. Hier kauft ein ebenso glück- wie inspirationsloser Autor ein Baguette, dessen einzige Qualität ein sich darin findender Zettel mit dem Anfang einer Geschichte ist: Der Autor übernimmt diesen Glückskekswurf und der entwickelt sich zur ersten Geschichte. Zugleich ist es aber auch jener Anfang, mit dem die Geschichte, die man selbst gerade liest, anfing. Das Spiel solcher erzählerischen Schrauben und Volten treibt Andreas Heidtmann Windung um Windung, Geschichte und Geschichte geschickt voran. Ihnen zu folgen bereitet ebensolchen Lesespaß wie die Varianz des Spiels mit dem sich selbst einholenden Erzählen: Auf unterschiedlichste Weisen wickeln sich alle Erzählungen des Bandes in sich selbst ein, drehen sich wie Fraktale in sich selbst zurück, wie Bilder von Escher und das ist nur die erste von verschiedenen Ebenen kunstvoller Schleifen und Verkettungen, mit denen die »Storys aus dem Baguette« aufwarten. Die Figuren aus dem Baguette sind von Geburt an oder vom ersten erzählerischen Atemzug weg eigenwillig, haben jeweils seltsame Gebrechen: verschiedenfarbige Augen mit höchst unterschiedlichen Weltbildern, angeborenes Dauerreden oder erbliches Pantomimisieren, Fähigkeit zum Gedankenlesen, übermenschliche Jonglierkünste, zwanghaftes Schreien, »als wäre es der Zweck ihres Daseins«. Das Phantastische ist Alltag bei Heidtmann. Es wird dennoch keinem Leser unglaubwürdig sein, daß hier ein von der Mutter verlassenes, mit dem Vater eher unterfordertes Kind Gedanken lesen kann. Man nimmt keinerlei Anstoß an der Akrobatik eines Artisten, der nach den Sternen greift und mit dem Mond jongliert. Man glaubt diesem Erzähler Heidtmann unbesehen, daß »Der doppelte Kaspar« Vater wird, indem er sein und seiner Frau Kind im eigenen Männerbauch trägt. Man ist sofort überzeugt von der Lebendigkeit des anderen Kindes, das unausgesetzt plappert, durch Kindheit und Kindergarten, Schule und Jugend hindurch schwatzt, ins Arbeitsleben als Taxifahrerin hinein und bis zur Karriere einer durchsetzungsfähigen Politikerin nicht aufhört zu reden, ausplaudert, was ihr im Kopf ist, nicht still wird, keine Sekunde Kein bißchen ist diese Welt von Andreas Heidtmann erstaunlich denn was in diesem Brotlaib eigentlich aufgeht, sind die Befreiungsversuche, welche die Figuren unternehmen, um der Kluft zwischen ihren Eigenheiten und der normalen Welt zu entkommen. Eine ganz leise Tragik weht in diesen negativen Rückkopplungsschleifen: Immer, wenn die Figuren von Heidtmann oder seine Leser endlich glauben, ihrer Eigenart entschlüpft zu sein, sitzen sie um so tiefer drinnen in ihren Hamsterrädern. Wenn »Der doppelte Kaspar« als Vater schwanger wird und es endlich geschafft hat, den Beweis seiner maskulinen Leibesfruchtbarkeit vor ein medizinisches Ultraschallgerät zu bugsieren, heißt es: »So sind die Wissenschaftler: Das gibt es nicht rufen sie ausgerechnet dann, wenn der Beweis erbracht ist.« So gesehen sind alle diese Figuren Wissenschaftler Probekörperchen in einer Pataphysik, die mit so feinen Techniken arbeitet, daß ihnen gegenüber Alfred Jarrys Surrealismen oder alles Dada grobe Klötze sind. Zweifellos eine der schönsten Geschichten in dem Band, dessen Cover von Miriam Zedelius übrigens kongenial zu der Aufrißhaftigkeit der Figuren gestaltet ist, ist die von Rebecca in »Get Happy!«, die »es liebte, die Welt in ihren Gesten gespiegelt zu sehen«. Sie kommuniziert ausschließlich mit der Welt um sie herum, indem sie sich mit ihren Händen nachformt und -ahmt, und man wird keine erzählte Figur je mit ihrem Leben so zufrieden sterben gesehen haben, wie Rebecca, die schließlich nach vieler Pantomime und Mimik und Gestik eines Abends zu Bett gegangen ist »und imitierte die Stille, indem sie an einen gewöhnlichen Stein dachte, der nichts anderes als die zur Ruhe gekommene Bewegung war.« Johann Willibald Sentega, der in der ersten Erzählung als Lehrer des Geschichten schreibenden Protagonisten auftritt, bekommt später eine eigene Erzählung, welche die Erzähl-Purzelbäume der ersten wiederholt. Ein hübsches rotes Cabriolet verhindert eine mit ihm filmgerecht ausstaffierte jugendliche Flucht, taucht in einer späteren Erzählung als Gewinn eines gewieften Onkels wieder auf nein, es handelt sich nicht um Einzelfälle, von denen Heidtmann erzählt, »mit einem Tick oder sollte man von einer Methode sprechen?« Durchzogen ist Heidtmanns Erzählen nämlich von einer Überzeugung, die aus der Mode gekommen ist oder bestenfalls als blaße Beschwörung in zeitgenössischer Literatur vorkommt: Was erzählt wird, wird auch wirken! Heidtmanns Storys setzen die Gewißheit, daß Geschichten, wenn sie erzählt werden, Wirkungen haben, daß Erzähltes Wirklichkeit wird genauer gesagt, schon Wirklichkeit ist. Nur weil Erzählen als fast magischer Versuch zur Verwirklichung verstanden wird, gehen Heidtmanns erzählerische Babuschkas auf. Wie russische Puppen sitzen die Figuren in den von ihnen erzählten Situationen, lösen sich Erzählvorlagen ein, wo die Figuren ihren absurden Bewegungen Raum lassen, oder konterkarrieren sich um so wirkungsmächtiger, je zwanghafter Heidtmanns eigensinnige Marionetten vor allem die Künstlerfiguren des Bandes dagegen angehen Damit aber kein Mißverständnis aufkommt über allem vorherigen Theoretisieren: »Storys aus dem Baguette« halten hinreißende Liebesgeschichten bereit, sie liefern burleske Ausflüge in einen überkandidelten Friseursalon ebenso wie sehnsüchtige Lebensentwürfe wie den im abschließenden Highlight des »Konzert der Engelstrompeten«. Sie gestalten insgesamt ihre Tiefgründigkeiten mit vergnüglicher Situationskomik und amüsanten Sprachspielchen, so daß dieses Buch auf vielen Ebenen großes Vergnügen bietet.
Axel Dielmann, Frankfurt/Main