Zum Buch:
Als ihr Vater gestorben war, hielt die Schriftstellerin Siri Hustvedt an seinem Grab, so wie er es sich gewünscht hatte, eine Abschiedsrede. Fast drei Jahre später hält sie wieder eine Rede auf ihn. Auf dem Campus der Universität, an der er vierzig Jahre lang gelehrt hat, wird ihm zu Ehren ein Baum gepflanzt. Kollegen, Schüler und die Familie sind versammelt. Als sie zu reden beginnt, spürt sie plötzlich ein heftiges Zittern. Ihr Körper hat sich verselbständigt, die Glieder zucken, werden geschüttelt. Ihr Kopf jedoch ist davon nicht befallen, sie kann ihren Zustand beobachten und ihre Rede beenden. Öffentliche Auftritte hatte sie in ihrem Schriftstellerleben genug absolviert, mal mehr, mal weniger aufgeregt. Was also ist hier mit ihr passiert? Und warum kehrt es wieder, ohne dass sich eine Regel dafür ausmachen ließe? Vor allem: Wer zittert eigentlich?
Um dies herauszufinden, macht sich Siri Hustvedt auf die Suche nach den möglichen Ursachen ihres Zitterns. Das Resultat dieser Suche ist ein Text, der zwischen Fallgeschichte, Autobiografie und Wissenschaftsgeschichte changiert. Er nimmt Fachliteratur, das eigene Erleben und fremde Fallgeschichten auf, um aufzuzeigen, was Neurobiologie, Hirnforschung, Psychiatrie und Psychoanalyse heute bei Krankheitsbildern wie Hysterie, Epilepsie oder Panikstörungen für Erkenntnisse aufweisen. Sie schildert ihre Arztbesuche, setzt sich mit Artikeln in Fachzeitschriften auseinander, vertieft sich in die Medizingeschichte, liest Freud. Mal gerät ihr Körper, mal ihr Geist, mal ihr Gehirn unter den Verdacht, das Zittern hervorzurufen. Die zitternde Frau erlebt sich jedoch als beides: als zuckenden Körper und als klaren, beobachtenden Geist.
Siri Hustvedt registriert mit Erstaunen, wie die einzelnen Fachrichtungen mit ihren Erkenntnissen umgehen und wie wenig sie geneigt sind, über ihren jeweiligen Tellerrand hinaus zu sehen oder in ihre Geschichte zurückzublicken. Da nicht zu orten ist, ob die Störung der Autorin im Gehirn sitzt, im Geist oder in der Seele, also weder Psychiater, Neurologen oder Psychoanalytiker sich eindeutig für ihr Problem zuständig fühlen, sitzt sie zwischen allen Stühlen. Das, was ihrer eigenen Wahrnehmung am nächsten kommt, findet sie an Orten der Mehrdeutigkeit. In der Literatur, in kulturtheoretischen Schriften, in der Philosophie findet sie sich wieder: darin, dass es keine Eindeutigkeit gibt und dass es gilt, sich in dem anzunehmen, was geschieht. Daher schließt das Buch mit dem Satz: Ich bin die zitternde Frau.
Der Text ist autobiographisch genug, um den Leser in Spannung zu halten. Gleichzeitig wahrt er eine wohltuende Distanz. Nie verfällt man in den angenehmen Schauder wie bei der Lektüre von Oliver Sacks Fallgeschichten oder glaubt, nun über die Krankengeschichte der Autorin Bescheid zu wissen. Diese Ausgewogenheit ist es, die neben dem ungeheuren Fachwissen dieses Buch zu einer fesselnden Lektüre macht.
Ruth Roebke, Autorenbuchhandlung Marx & Co., Frankfurt