Zum Buch:
Es ist ein heißer Sommer. Langsam gleitet der behäbige Dampfer „Patagonia“ durch das ruhige Meer von Boston nach Liverpool. An Deck sind der Erzähler, seine alte Freundin Ms. Nettlepoint und deren Sohn Jasper, ein gut aussehender, äußerst selbstbewusster junger Mann. Der kleinen Gruppe hat sich Grace Mavis angeschlossen. Sie kommt, im Gegensatz zu den anderen, aus einer verarmten Familie und hat sich nach dem Tod ihres Vaters entschlossen, ihren langjährigen Verlobten zu heiraten, einen eher erfolglosen Künstler, den sie kaum kennt. Sie hat sich in Ms. Nettlepoints Obhut begeben, da es für eine junge Frau unschicklich wäre, allein zu reisen.
Ms. Nettlepoint pflegt Schiffreisen allerdings ausschließlich in ihrer Kabine zu verbringen, und so ist es der charmante Jasper, der sich ausgiebig um die nicht mehr ganz junge Frau auf ihrem Weg in eine eher trübselige Ehe kümmert. Das Schiff ist langsam, das Meer langweilig – was also gibt es für die anderen Reisenden Interessanteres, als die beiden ausgiebig zu beobachten und ihr Benehmen zu kommentieren. Was als Interesse beginnt, wird schnell zum Klatsch. Jeder spekuliert, wie schicklich oder nicht Miss Mavis sich benimmt. Immer dichter wird das intrigante Netz aus übler Nachrede, und man weiß nicht, was schlimmer ist: das wohlmeinende Desinteresse der ihren Sohn vergötternden Ms. Nettlepoint oder die offene Niedertracht einer Ms. Peck, die ständig darüber nachsinnt, wie man dem Verlobten, der Miss Mavis in Liverpool abholen wird, das skandalöse Tun entdecken soll – bis es zur Katastrophe kommt.
Die Geschichte ist einer wahren Begebenheit nachgebildet, die James erzählt wurde. Eine zweite Vorlage war Anthony Trollopes Erzählung „Eine Reise nach Patagonia“, die ein ähnliches Sujet beschreibt, jedoch eine andere Wendung nimmt, und die der Verlag in das Buch mit aufgenommen hat.
„Überfahrt mit Dame“ ist ein kleines Juwel. Leicht dahingetupft kommt die Erzählung daher, aber man merkt sehr schnell, wie doppelbödig jeder Satz ist. So banal die Handlung anmutet, so vielschichtig ist die Sprache, zumal diese mehr weglässt als erzählt. James erklärt die Motive seiner Personen nicht, und in dieser Unklarheit bleibt dem Leser viel Raum für eigene Interpretationen. Das ist wirklich meisterhaft.
Ruth Roebke, autorenbuchhandlung marx & co, Frankfurt