Belletristik

Drucken

Buchempfehlung Belletristik

Autor
Kluge, Alexander

Das fünfte Buch

Untertitel
Neue Lebensläufe. 402 Geschichten
Beschreibung

Mit diesem Fünften Buch gelangt Alexander Kluges großes Erzählprojekt zu seinem Abschluß. In vier voraufgegangenen Bänden, der zweibändigen Chronik der Gefühle und den einbändigen Geschichtensammlungen Die Lücke, die der Teufel läßt sowie Tür an Tür mit einem anderen Leben, wurden seit dem Jahr 2000 die über sechs Jahrzehnte hinweg entstandenen Geschichten des Autors in großformatigen Bänden versammelt. Alle Geschichten, die darin nicht enthalten waren, werden diesem Eckband seines Lebenswerks nun auf neue Weise eingeschrieben: konzentriert und endgültig.

Verlag
Suhrkamp Verlag, 2012
Format
Gebunden
Seiten
564 Seiten
ISBN/EAN
978-3-518-42242-7
Preis
34,95 EUR

Zur Autorin/Zum Autor:

Alexander Kluge wurde am 14. Februar 1932 in Halberstadt geboren. Er studierte in Marburg und Frankfurt/Main Rechtswissenschaften, Geschichte und Kirchenmusik. Nach seiner Zulassung als Rechtsanwalt absolvierte er ein Volontariat bei dem Filmregisseur Fritz Lang und betätigte sich mit Erfolg als Filmemacher und literarischer Autor. Er erhielt zahlreiche Preise, unter anderem den Deutschen Filmpreis 2008 (Ehrenpreis). In der filmedition suhrkamp erschien zuletzt Nachrichten aus der ideologischen Antike. Marx – Eisenstein – Das Kapital.

Zum Buch:

Im Januar 2012 wurde Alexander Kluge, der als 13-Jähriger die Bombardierung seines Geburtsortes Halberstadt nur knapp überlebte und dieser Tage 80 Jahre alt geworden ist, in einem SPIEGEL-Interview nach seiner derzeitigen Gemütsverfassung befragt. Kluge konnte und wollte diese Frage nicht beantworten und teilt diese emotionale Reserviertheit mit dem Personal, dessen Geschichte er in „Das fünfte Buch“ ausbreitet. 402 Geschichten von Menschen, die so spröde sind, dass sie sich vom Schicksal nicht klein kriegen lassen, und die damit dem Credo folgen, das Kluges Arbeit als Filmemacher und Schriftsteller seit den frühen 60ern programmatisch beflügelt: „Keine Enttäuschung braucht den Vorrat an Hoffnung auf. Ob die am Ende nutzt oder nicht, liegt, pathetisch gesprochen in Gottes Hand oder in den Händen von uns allen. Der Eigensinn des Menschen ist verlässlich und unbesiegbar. Er kehrt immer wieder. Er ist ein Phönix.“

Das Fräulein Clärli aus der sechsten Geschichte ist eine klugesche Lebensläuferin par excellence. Am 30.April 1945 kommt ihr in der Neuen Zürcher Zeitung ein Inserat unter die Augen, in dem sie ein junger Skifahrer in grauer Hose und gleichfarbiger Windbluse an eine Begegnung auf dem Weisfluhjoch erinnert und sie bittet, ihm unter Chiffre ihre Anschrift zukommen zu lassen. Das anschließende Treffen mündet wider Erwarten nicht in die Anbahnung einer Ehe, sondern in eine flüchtige sexuelle Begegnung ein, der neun Monate später ein Kind entspringt. Der „Roué aus Flandern“ verschwindet auf Nimmerwiedersehen, die Kindsmutter verteidigt die illegitime Geburt und bringt das Kind voran: “wortlos, vaterlos und in Not.“ Der Sohn gründet ein in Zürich hochangesehenes Eheberatungsunternehmen und setzt drei Kinder in die Welt, die als Popmusiker in den USA reüssieren und zwischen den Kontinenten hin und her pendeln. Zu ihrem 85. Geburtstag lädt die greise Clärli ihre Nachkommen ins Hotel Baur au Lac ein und erklärt in einer Tischrede, dass sie dem belgischen Hallodri längst verziehen habe. Mehr noch: sie sei dem Ungetreuen dankbar, wenn sie auf ihre tüchtigen und offenbar vielfältig interessierten Kinder und Kindeskinder blicke. Ein Schuft, fügt sie hinzu, habe etwas Gutes zustande gebracht, allein durch ein Element, das er selbst nicht beherrschte: „durch den Eifer, mit dem er mich suchte.“ Wenn Kluge seiner generösen weiblichen Figur den Satz in den Mund legt, „dass die Männer zwar ein Lügengeschlecht seien, dass aber die Energie, welche die Lügen in Bewegung hält, unentbehrlich sei für den Fortschritt“, wird das nicht nur Mütter befremden, die von den Erzeugern ihrer Kinder im Stich gelassen wurden.

Man wird auch als männlicher Leser mit dem Personal, das Kluge aufmarschieren lässt, nur selten warm. Das mag mit dem Lehrstückcharakter der Szenen und der juristischen Diktion seiner Prosa zusammenhängen; eine argumentative Kühle, die „Das fünfte Buch“ erst in der zweiten Hälfte abstreift. Auf Seite 235 findet sich ein Brief abgedruckt, den Th.W.Adorno 1967 an Kluges Schwester Alexandra schrieb, die mit der Hauptrolle in Kluges Film „Abschied von gestern“ betraut war. In einer Szene geht es darum, dass die Protagonistin überführt wird, den Pullover einer Arbeitskollegin gestohlen zu haben. Auf die Frage des Richters, warum sie sich ausgerechnet in der warmen Jahreszeit widerrechtlich dieses Kleidungsstücks bemächtigt habe, gibt sie zur Antwort: „Ich friere auch im Sommer.“ Adorno, der einen Essay über die Kälte zu schreiben beabsichtigt, rekurriert in seinem Brief auf eben diese Antwort und schreibt: „Darum geht es wirklich, im allertödlichsten Ernst.“ Der Essay bleibt ungeschrieben, zwei Jahre später ist Adorno tot und Kluges Text zeigt sich von dem ergriffen, was er beschreibt. Aus der Eiszeit stamme die für Warmblüter wichtige Unterscheidung zwischen heiß und kalt als Grundlage aller Gefühle: „Insofern kann man sagen, dass wir Menschen aus der Kälte stammen. Zugleich aber wird man beobachten können, dass Herzenskälte dauerhaft nicht zu ertragen ist.“

Kluge macht es dem Leser nicht leicht, aber wer mit ihm die Eiswüste der Abstraktionen durchquert, wird durch die dargebotene Vielfalt der menschlichen Lebensäußerungen reich belohnt und kann den Pullover auch mitten im Winter für die Dauer der Lektüre bei Seite legen.

Günter Franzen, Frankfurt am Main