Zur Autorin/Zum Autor:
Walter Kohl, geboren 1953 in Linz/Österreich. Bis 1996 Korrespondent der österreichischen Tageszeitung Die Presse. Lebt als freier Schriftsteller in Eidenberg/Österreich.
Um nur eine ungefähre Vorstellung davon zu bekommen, wie es ist, plötzlich blind zu sein, dazu muss man sich nur die Augen zuhalten. Oder um ein Gefühl von Taubheit zu simulieren, eben die Finger in die Ohren stecken. Aber um zu testen, wie es ist, nichts mehr riechen zu können, reicht es nicht, sich einfach nur die Nase zuzuhalten. Walter Kohl kann nicht mehr riechen. Nichts. Nie mehr. Dies ist seine Geschichte.
Walter Kohl ist geradezu besessen vom Riechen. Ganz gleich ob Mann oder Frau: Jedes Mal, wenn er zufällig oder absichtlich in die Nähe von Menschen gerät, überkommt ihn der dringende Wunsch, an ihnen zu riechen. Er vermisst die Nähe, das ist es, was ihn zwingt, doch weiß er nur zu gut, es wird dabei bleiben, denn er kann nichts mehr riechen. Gar nichts. Ein heißer Junitag. Kohl ist Mitte vierzig, erfolgreicher Journalist bei einer österreichischen Tageszeitung und seit Jahren glücklich verheiratet. Gerade ist er mit dem Fahrrad unterwegs zum nahegelegenen Supermarkt, um neue Batterien für sein Abspielgerät zu kaufen. Ein Abgabetermin läuft ab, er hat es also eilig. Beim Überfahren einer niedrigen Bordsteinkante löst sich plötzlich das Vorderrad aus der Gabel, er stürzt schwer und schlägt sich dabei den Kopf auf.
Erst Tage nach der Operation teilen ihm die Ärzte mit, daß bei dem Unfall sein Geruchsnerv durchtrennt wurde, was zur Folge hat, dass er nie wieder etwas riechen können wird. In seinem sehr persönlichen Bericht beschreibt Walter Kohl den fortschreitenden Verlust von menschlicher Wärme, von Zuneigung und Leidenschaft. Erst nach und nach wird ihm die Tragweite dieser Endgültigkeit bewußt, und trotz all seiner Versuche, ein halbwegs normales Leben zu führen, muss er sich schließlich eingestehen, dass er sein Leben komplett umstrukturieren muss, um den Anschluss an Nähe nicht für immer zu verpassen.
Ich habe keine Freude am Essen. Alles schmeckt gleich, nämlich eintönig und langweilig. Der teuerste Wein bringt mir denselben Genuss wie eine Zwei-Liter-Tetrapackung vom Discounter, nämlich keinen. Doch das sind mindere Belastungen. Eine große Belastung ist: Ich habe keine Heimat, weil ich nichts rieche. Gerade durch seine Offenheit, den nüchternen Erzählstil sowie einige durchaus humoristische Einlagen entbehrt Kohls Geschichte jeglichen Anflug von Sentimentalität, man gewinnt bei der Lektüre vielmehr den Eindruck, er würde sich in seinem Bericht aus einer Welt ohne Gerüche eher selbst betrachten und somit den nötigen Abstand gewinnen. Auch wenn man diese Geschichte persönlicher nicht hätte schreiben können. Respekt.
Axel Vits, Der andere Buchladen Köln