Belletristik

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Buchempfehlung Belletristik

Autor
Köhlmeier, Michael

Das Philosophenschiff

Untertitel
Roman
Beschreibung

Auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis 2024

Ein Roman über das Zuhören, das Erzählen, das Verschweigen – über den Blick auf ein ganzes Leben. Die Erzählung einer Hundertjährigen über ihre wichtigsten Erinnerungen entsteht als Gespräch, das ein Schriftsteller mit ihr führt. Es geht also um Zeitzeugenschaft, und die Lesenden erfahren, wie das Erinnern und das Erfragen ineinandergreifen. Auf diesem Weg erzählt der Roman auch vom Erzähler. Beide blicken auf die verratenen Ideale der kommunistischen Utopie. Sehr viele große Themen, die Michael Köhlmeier in diesem kurzen Buch nicht etwa bearbeitet, sondern die in freundlichem Ton im Bericht einer Begegnung aufscheinen.
(ausführliche Besprechung unten)

Verlag
Hanser Verlag, 2024
Format
Gebunden
Seiten
224 Seiten
ISBN/EAN
978-3-446-27942-1
Preis
24,00 EUR

Zur Autorin/Zum Autor:

Michael Köhlmeier, in Hard am Bodensee geboren, lebt in Hohenems/Vorarlberg und Wien.

Zum Buch:

Ein Roman über das Zuhören, das Erzählen, das Verschweigen – über den Blick auf ein ganzes Leben. Die Erzählung einer Hundertjährigen über ihre wichtigsten Erinnerungen entsteht als Gespräch, das ein Schriftsteller mit ihr führt. Es geht also um Zeitzeugenschaft, und die Lesenden erfahren, wie das Erinnern und das Erfragen ineinandergreifen. Auf diesem Weg erzählt der Roman auch vom Erzähler. Beide blicken auf die verratenen Ideale der kommunistischen Utopie. Sehr viele große Themen, die Michael Köhlmeier in diesem kurzen Buch nicht etwa bearbeitet, sondern die in freundlichem Ton im Bericht einer Begegnung aufscheinen.

Die uralte Architektin fordert den Schriftsteller auf, sie zu besuchen, und erwartet von ihm, dass er ihre Lebensgeschichte erzählt. Der Ich-Erzähler hat viele Züge des Autors Michael Köhlmeier, und die Architektin gleicht der berühmten Margarete Schütte-Lihotsky. Aber, so sagt es die Architektin im Roman bei ihrer ersten Begegnung zu dem Schriftsteller: „Was niemand weiß, das sollen Sie schreiben, ein Schriftsteller, dem man nicht glaubt, was er schreibt.“ Denn: „Gesagt werden soll es. Und wenn es keiner glaubt, umso besser.“ Die Lesenden wissen also von vornherein nicht, ob sie glauben können, was die Architektin dem Schriftsteller erzählt, und ebenso wenig, ob der Schriftsteller im Roman das wiedergibt, was die alte Dame ihm erzählt hat. Das ist die Voraussetzung, um sich auf diese Geschichte einzulassen. Sie handelt von der Vertreibung einer großen Gruppe sowjetischer Intellektueller und Kunstschaffender, die auf den „Philosophenschiffen“ über die Ostsee außer Landes gebracht wurden. Michael Köhlmeier nennt die berühmte Architektin Anouk Perleman-Jacob, fast alle anderen Figuren sind historisch belegt. Sie berichtet im Roman von den Lebensgeschichten ihrer Eltern und deren Freundeskreis zur Zeit der Revolution in Russland, von ihrem Leben im Pariser Exil, von Liebesverwirrungen und den Schulen der Poesie der Moderne. Das könnte das Thema des Romans sein, ist es aber nicht.

Im Zentrum steht die verlassene und isolierte Gruppe von Intellektuellen auf dem Weg ins Exil. Anouk ist als Vierzehnjährige dabei. Sie erinnert sich gegen Ende ihrer Erzählung, dass ihr Vater sagte, sie seien bereits tot, weil sie ihr Leben verloren hätten, ihre Stadt Petersburg und ihre intellektuelle Welt. Auf dem riesigen verlassenen Schiff leben allein die Deportierten, und zwar in den Kabinen der 3. Klasse. Sie sehen keine Spur von der Besatzung, die sie mit Essen und Getränken versorgt. Sie sind verschreckt, misstrauen einander und fürchten die Denunziation; alle leben in Angst voreinander. Aber Anouk entdeckt einen weiteren Passagier, zu dem sie auf einem abenteuerlichen Weg hinauf zum Sonnendeck klettert. Dieser Passagier ist Lenin, der die Philosophen gemeinsam mit Trotzki verbannt hatte. Nun ist Lenin selbst von Stalin auf das Schiff gebracht worden, er wird „nicht mehr gebraucht“. Anouk freundet sich mit ihm an.

Es gibt eine zweite Erinnerung an die Beteiligung am kommunistischen Kampf, die aus der Distanz des Alters erzählt wird – aber am Ende wird sie nicht wirklich erzählt. Diesmal ist es die Farce der westdeutschen Linken in den 1970er Jahren. Carlo, ein Studienfreund des fiktiven Schriftstellers, war beim Kommunistischen Bund Westdeutschlands. Er beschließt, auszusteigen und wird daraufhin von Genossen entführt, verhört und im Wald ausgesetzt. Der Schriftsteller denkt beim Anhören der Geschichte der uralten Dame an diese Episode seiner Jugend und ruft Carlo an. Nach Jahrzehnten soll er sich erinnern. Aber Carlo hat keine Lust dazu, er will seine Ruhe haben. Auch über die Frage, ob ihm Unrecht geschehen ist, ob sein Leben in Gefahr war, möchte er nicht sprechen. Im Gespräch stellt sich eins jedoch klar heraus. Carlo sagt, es habe sich damals angefühlt wie eine große Sache. Aber es sei überhaupt keine große Sache gewesen, nur: „Man darf doch wenigstens so tun, als ob man eine große Sache erlebt.“ Deshalb sei es heute überflüssig, eine Wut auf jemand zu haben. Es sei einfach zu anstrengend. Von diesem Gespräch wechselt der Roman zum letzten Kapitel der Erzählung der uralten Architektin. Ob es so gewesen ist? „Die Wahrheit ist die Erinnerung an sie.“

Eine politische Dimension hat dieses Nachdenken über die Revolution und die Erinnerung auf jeden Fall: In dem großen Drama der sowjetischen Geschichte und in dem winzigen Dramolett im Rahmen des KBW kippt der egalitäre Traum in die totalitäre Herrschaft.

Gottfried Kößler, Frankfurt