Belletristik

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Buchempfehlung Belletristik

Autor
Lanchester, John

Kapital

Untertitel
Roman. Aus dem Englischen von Dorothee Merkel
Beschreibung

Lange Zeit war die Pepys Road im Londoner Süden eine ganz normale Londoner Straße, bewohnt von Arbeitern und kleinen Angestellten. Ganz normale kleinbürgerliche Familien lebten dort in ihren Reihenhäuschen, zogen ihre Kinder groß, pflegten den Vorgarten und einen bescheidenen Lebensstil. Dann kam Maggie Thatcher, die Immobilienpreise in London stiegen, bis sie in den ersten Jahren des neuen Jahrtausends schließlich explodierten. Viele der ursprünglichen Bewohner verkauften ihre Häuser zu astronomischen Preisen und zogen sich mit ihrem neu erworbenen Reichtum aufs Land zurück. Die Pepys Road wurde schick und „in“, die neuen Bewohner, jung, reich und anspruchsvoll, blätterten Millionen für die Häuschen hin, bauten um und richteten sich guten Gewissens in ihrer sicheren Wohlstandswelt häuslich ein. Aber die Außenwelt lässt sich nicht aussperren: Per Ansichtskarte melden sich Unbekannte bei allen Bewohnern der Straße und fordern: „Wir wollen, was ihr habt.“
(ausführliche Besprechung unten)

Verlag
Heyne Verlag, 2014
Format
Taschenbuch
Seiten
800 Seiten
ISBN/EAN
978-3-453-41099-2
Preis
11,99 EUR

Zur Autorin/Zum Autor:

William Horwood John Lanchester, geboren 1962 in Hamburg, wuchs im Fernen Osten auf und arbeitete in England als Lektor beim Verlag Penguin Books, ehe er Redakteur der “London Review of Books” wurde. Daneben war er für Zeitungen und Zeitschriften wie “Granta” und “The New Yorker” tätig sowie als Restaurantkritiker für “The Observer” und Kolumnist für “The Daily Telegraph”. Er gehört zu den bedeutendsten Schriftstellern und führenden Intellektuellen Englands.

Zum Buch:

Lange Zeit war die Pepys Road im Londoner Süden eine ganz normale Londoner Straße, bewohnt von Arbeitern und kleinen Angestellten. Ganz normale kleinbürgerliche Familien lebten dort in ihren Reihenhäuschen, zogen ihre Kinder groß, pflegten den Vorgarten und einen bescheidenen Lebensstil. Der Krieg hatte hier kaum Spuren hinterlassen, und in den 50er und 60er Jahren breitete sich ein bescheidener Wohlstand aus. Dann kam Maggie Thatcher, die Immobilienpreise in London stiegen, bis sie in den ersten Jahren des neuen Jahrtausends schließlich explodierten. Viele der ursprünglichen Bewohner verkauften ihre Häuser zu astronomischen Preisen und zogen sich mit ihrem neu erworbenen Reichtum aufs Land zurück. Die Pepys Road wurde schick und „in“, die neuen Bewohner, jung, reich und anspruchsvoll, blätterten Millionen für die Häuschen hin, bauten um und richteten sich guten Gewissens in ihrer sicheren Wohlstandswelt häuslich ein. Aber die Außenwelt lässt sich nicht aussperren: Per Ansichtskarte melden sich Unbekannte bei allen Bewohnern der Straße und fordern: „Wir wollen, was ihr habt.“

„Kapital“ von John Lanchester ist ungeachtet des ungeschickten Titels (der eben nicht die Mehrfachbedeutung des englischen „Capital“ transportiert, also Geld, Hauptstadt und Großspurigkeit) ein großartiger Roman, ein veritabler Schmöker im besten Sinne des Wortes, der uns auf so kluge wie unterhaltsame Weise das Spiegelbild unserer Gesellschaft vorhält. Der Autor nimmt uns gleichsam bei der Hand und flaniert mit uns durch die Straße, vorbei an erleuchteten Fenstern, in denen wir den Protagonisten bei ihrem Leben zuschauen können. Wir lernen Arabella und Roger Yount kennen, den Banker, der sich ausrechnet, wie hoch der Bonus wohl dieses Jahr ausfallen wird – eine Million darf’s, nein, muss es schon sein, wenn er seinen Lebensstil beibehalten will, nicht zuletzt im Interesse der Gattin, die das Shopping zum Lebensinhalt gemacht hat. Gleich daneben treffen wir Petunia Howe, die schon immer hier gewohnt hat und jetzt, im Alter, mit den Tücken des Gesundheitssystems ringt und mit ihrem üppig wuchernden Garten die Ästhetik der neuen Gartengestaltung der Nachbarhäuser stört. Bei Mickey Lipton-Miller, dem Fußball-Manager, der sein Haus an ausländische Neuzugänge seines international berühmten Fußballclubs vermietet, zieht gerade Freddy Kamo ein, das 17jährige Fußballwunder aus dem Senegal, auf dem Weg zum Ruhm begleitet von seinem Vater, der den Kulturschock schlechter verkraftet als sein neugieriger Sohn. Und an der Ecke besuchen wir das Lebensmittelgeschäft, das Ahmed Kamal mit Hilfe seiner Brüder Shadid und Usman betreibt. Ahmed kennt alle, weil alle bei ihm kaufen. Und natürlich stellt uns der Autor auch das Personal vor, das den neuen Bewohnern die Arbeit abnimmt, zum Beispiel die schöne Matya Balatu, die aus Ungarn nach London kam, um einen reichen Mann zu finden, aber bis dahin als Kindermädchen bei den Younts arbeitet, oder Zbigniew Tomaschewski, den begnadeten Handwerker, der von der Kundschaft der Einfachheit halber Bogdan genannt wird und der im Abstand von wenigen Monaten um der gewünschten Abwechslung willen geduldig und sorgsam immer wieder dieselben Schlaf- und Badezimmer streicht, während er davon träumt, seinen Eltern in Polen den ersehnten Bauernhof zu kaufen. Und wir laufen der „unbeliebtesten Frau in der Pepys Road“ über den Weg: der Knöllchen verteilenden Quentina Mkfesi aus Nigeria, die sich beim Warten auf die Bearbeitung ihres Asylverfahrens illegal ihr Geld als Politesse verdient.

Mit langem Atem, der an die klassischen viktorianischen Romane erinnert, und mit großer Wärme erzählt John Lanchester vom Leben und Schicksal dieser und anderer Personen, aber ohne den damals üblichen moralischen Zeigefinger. Er überlässt es dem Leser, seine Schlüsse zu ziehen aus diesem Bild einer Welt, die die unsere ist, die wir aber in all ihren Facetten nur selten wahrnehmen (können). „Kapital“ ist ein Roman wie ein Film von Robert Altman: episodenhaft, ohne je in seine Einzelteile zu zerfallen, zusammengehalten von einer großen Zärtlichkeit für seine Protagonisten und einem sehr genauen kritischen Blick auf die Gesellschaft. Unbedingt lesen!

Irmgard Hölscher, Frankfurt am Main