Zum Buch:
Was für ein grandioses Stück Literatur! Hervé Le Telliers Roman Die Anomalie wurde Ende November 2020 mit dem Prix Goncourt, dem wichtigsten Literaturpreis Frankreichs ausgezeichnet, und zwar zu recht.
Der eigentliche Plot ist schnell erzählt: eine Boeing 787 startet im März 2021 in Paris zu ihrem Überseeflug nach New York. Sie gerät in heftige Turbulenzen und landet zwar beschädigt, jedoch ohne Verletzte an ihrem Bestimmungsort. So weit, so gut. Im Juli 2021 empfängt der Tower in Manhattan Funksignale einer in ein heftiges Unwetter geratenen Maschine der Air France, eben jener Boeing 787, mit Kapitän David Markle als Pilot. Das absurde Gedankenspiel beginnt.
Plötzlich haben alle Passagiere einen Doppelgänger, der sich einzig und allein durch die Tatsache unterscheidet, die letzten Wochen nicht erlebt zu haben. Im Falle eines Suizids, einer Schwangerschaft oder Trennung können diese Wochen einen entscheidenden Unterschied machen. Bei den allermeisten Passagieren stehen sich zwei identische Personen mit demselben Erfahrungsschatz, denselben Geheimnissen, denselben Eigenheiten gegenüber. Wie fühlt sich das an? Möchte man mit sich selbst den Rest des Lebens verbringen bzw. Partner, Kinder, Haus und Beruf teilen?
Hervé Le Tellier entwickelt aus dieser wahnwitzigen Ausgangslage heraus eine ironische Persiflage auf unsere Jetztzeit. Eine amerikanischer Sicherheitsmaschinerie läuft an zwischen FBI, Air Force und einem sichtlich überforderten Präsidenten, Vertretern aller Religionen, die herangezogen werden, um die unerwünschte Klonung der 243 Passagiere ethisch und moralisch zu überprüfen, bevor die Öffentlichkeit davon erfährt, und diversen Nobelpreisträgern, die bei Nacht und Nebel vom Geheimdienst aus ihren Betten geholt werden, um zwischen Wurmlochtheorie und Bostrom-Hypothese nach einer plausiblen Erklärung für das verstörende Verdopplungs-Szenario zu suchen. Aus detailliert und einfühlsam beschriebenen Einzelschicksalen entwickelt sich eine politische und gesellschaftliche Situation, die durch religiösen Wahn und Verschwörungserzählungen zu explodieren droht.
Viel mehr darf hier allerdings nicht über diesen gelungenen Spagat zwischen Thriller, Politroman und literarischem Bravourstück verraten werden. Vielleicht nur so viel, dass dem Text die unbändige Fabulierfreude des dreiundsechzigjährigen Autors und gegenwärtigen Vorsitzenden der Literaturgruppe “Oulipo” in jeder Zeile anzumerken ist. Ob und welche Formspielereien sich Le Tellier beim Schreiben auferlegt hat, ist meines Wissens nicht bekannt, tut aber auch nichts zur Sache. Die Anomalie gehört mit ihrer Frage nach Wahrheit vs. Simulation in jedem Fall zu den spannendsten und amüsantesten Romanen dieses Literatur Herbstes.
Larissa Siebicke, autorenbuchhandlung marx & co, Frankfurt