Belletristik

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Buchempfehlung Belletristik

Autor
Lewinsky, Charles

Melnitz

Untertitel
Roman
Beschreibung

Melnitz ist ein historisches Gemälde. Fünf Generationen Meijers lernen wir kennen. Die Geschichte der Schweizer Juden ist gruppiert um 4 historische Brennpunkte: 1871 – der deutsch-französische Krieg, 1893 – die erste Schweizer Volksinitiative verlangt ausgerechnet ein Schächtverbot, 1913 – das bürgerliche Europa steht vor dem Untergang im Ersten Weltkrieg, 1937 – die Hitlerei. Lewinsky trifft die Stimmung in dieser Schweiz zu diesen Zeitpunkten haargenau, ohne Übertreibung, ohne Untertreibung.

Verlag
Nagel & Kimche, 2006
Format
Gebunden
Seiten
776 Seiten
ISBN/EAN
978-3-312-00372-3
Preis
24,90 EUR

Zum Buch:

Wozu ins galizische Stettl schweifen? Endigen und Zürich liegen doch so nah. Und auch hier sind die Schicksale der Juden bunt und dramatisch. Charles Lewinsky, der dieses Jahr seinen 60. feiert, ärgert sich, wenn er immer wieder als Autor so erfolgreicher Fernseh-Sitcoms wie „Fascht e Familie“ vorgestellt wird. Man kann den Mann verstehen. Nach 10 Büchern, 9 Theaterstücken und 1 Schillerpreis (für den Roman „Johannistag“) hat er Anspruch darauf, als das zu gelten, was er ist: einer der wichtigen zeitgenössischen Autoren dieses Landes (der Schweiz). „Melnitz“, sein neuer, 750-Seiten-starker Roman, ist eine breit angelegte Familiensaga: 5 Generationen Meijers lernen wir kennen. Der alte Viehhändler Salomon mit seinem Markenzeichen, dem Schirm, den er auch bei Regen nie benutzt, ist Ende des 19. Jahrhunderts noch der Patriarch einer selbstverständlich in sich ruhenden Endiger Familie. Im Laufe der folgenden Jahrzehnte differenziert und diversifiziert sich diese Familie, spaltet sich in verschiedene Haltungen dem Glauben und der goijschen Umgebung gegenüber. Einer, ein Warenhausbesitzer in Zürich, lässt sich aus Geschäftsgründen gar taufen zum Meier ohne Jot. Andere sterben vorzeitig, verschwinden mit ihrer deutschen Gemeinde im KZ. Neue kommen dazu, z.B. ein Gewerkschafter aus Galizien. Zu verfolgen, wer wen zum Heiraten kriegt, ist ein Hauptvergnügen bei dieser spannenden Lektüre. Das Panorama reicht bis zum wilden, zionistischen Jungspund der 30er Jahre. „Melnitz“ ist aber auch ein historisches Gemälde. Die Geschichte der Schweizer Juden ist gruppiert um 4 historische Brennpunkte: 1871 – der deutsch-französische Krieg, 1893 – die erste Schweizer Volksinitiative verlangt ausgerechnet ein Schächtverbot, 1913 – das bürgerliche Europa steht vor dem Untergang im Ersten Weltkrieg, 1937 – die Hitlerei. Lewinsky hat bienenfleissig recherchiert. Der Mann weiss, welche Strassenbahnen in Zürich 1937 abends nicht mehr fuhren. Er kennt alle modischen Details der Kleider und Stoffe durch die Jahrzehnte. Wenn er vorführt, wie 1893 in einer Volksversammlung die bodenständige Schweizer Seele gegen die Juden zum Kochen gebracht wird, dann läuft es einem kalt den Rücken hinab. Er trifft die Stimmung in dieser Schweiz zu diesem Zeitpunkt haargenau, ohne Übertreibung, ohne Untertreibung. Lewinsky ist ein Genie im Erfinden von Geschichten, die den Zeitgeist einfangen und dennoch originelle Wendungen nehmen und Raum lassen für scharf gezeichnete Individuen. Keine der Figuren ist nur dazu da, Geschichte zu illustrieren. Die Personen leben. Es ist menschlich berührend, wie Chanele Meijer (1852-1937), ein Adoptivkind, das einen Mann heiratet, der sie nicht liebt, ihrer Ehe Sinn gibt. Und wenn wir miterleben, wie sie, die kluge Beobachterin und Menschenkennerin, durch geschicktes Taktieren den Ruin der Familie abwendet, so begreifen wir erst nach der Lektüre, dass hier eine schöne Verkörperung des jüdischen Matriarchats gelungen ist. Dem Autor gehen die Ideen nicht aus. Als Janki Meijer (1848 – 1924), der als Elsässer den deutsch-französischen Krieg am Rande miterlebt hat, in Baden eine Stoffhandlung eröffnen will, publiziert die lokale Zeitung einen antisemitischen Hetzartikel gegen ihn. Er scheint erledigt. Aber nein. Ein anderes Familienmitglied, ein ganz unüblich intellektueller Metzger, hat die glänzende Idee, Gegenstimmung zu machen. Er lässt, ebenfalls in der Zeitung, das Gerücht verbreiten, Janki sei ein Held von Sedan. Der Coup gelingt, Janki wird verehrt. Und wie Janki über die Jahre langsam in die Rolle des Kriegshelden hineinwächst, zu hinken beginnt wegen einer eingebildeten Kriegsverletzung, Erfolg hat – und wie er schliesslich, Jahre später, in der Gesellschaft echter Sedan-Veteranen erkennen muss, dass er doch nur der Jud bleibt – das ist menschlich interessant und historisch aufschlussreich. Das Buch steckt voller derartiger Geschichten. Nun will Lewinsky ein breites Publikum erreichen. Durch formale Neuerungen in die Annalen der Literaturgeschichte einzugehen, ist seine Sache nicht. Der Roman ist im Wesentlichen konventionell erzählt: Ein allwissender Erzähler nimmt uns an die Hand. Das geht gut, solange der Erzähler unauffällig bleibt. Manchmal aber lugt der Autor hinter seinem Erzähler hervor. Es ist oft nur ein Satz, der zu viel ist: zuviel Erklärung, zu deutlich. Als Leser möchte man doch auch selbst was merken. Zu sorgsam auch sind die jiddischen Ausdrücke in die Erzählung gestreut, zu offensichtlich sind sie erklärt, im Text durch Umschreibung und in einem angefügten Glossar. Mit der titelgebenden Figur des Melnitz bricht Lewinsky allerdings aus der realistischen Erzählweise aus. Sein Name ist abgeleitet vom Kosakenhäuptling Bogdan Chmelnitzky, der im 17. Jahrhundert Juden schlachtete. Melnitz geistert als toter Vorfahre durch den Roman, erscheint den Figuren unvermutet und erinnert sie, angenehm ironisch, an die Geschichte der Verfolgungen und vergeblichen Anpassungsbemühungen. Er verkörpert das Gedächtnis. Im Hauptteil der Romans ist er eine witzige, nachdenklich stimmende Bereicherung. Dass indes zur Situation von 1945 nur er, in einer Art Nachgesang, das Wort erhält, und was er da zu sagen hat, das reicht nicht aus. Seis drum. Die erzählten Geschichten sind wunderbar. Wenn ich könnte, würde ich Lewinsky ermuntern, eine Fortsetzung über die Nachkriegsgeschichte der Schweizer Juden zu schreiben. Und falls das Schweizer Fernsehen noch ein wenig Mumm hat, wird es sich diesen idealen Filmstoff nicht entgehen lassen.

Felix Schneider, Basel