Zum Buch:
Vordergründig kommt “Motherless Brooklyn” wie eine detective Story daher, schließlich erzählt Jonathan Lethems Roman, wie der Detektivhandlanger Lionel “Freakshow” Essrog den Mörder seines Chefs und Ersatzvaters zu finden versucht. Aber die sich überschlagende, weniger-als-72-Stunden-Handlung fesselt vor allem durch ihre Vielschichtigkeit: Es gibt da die Geschichte einer Kindheit und Jugend im Waisenhaus, den Schauplatz Brooklyn / New York mit seinem Milieu, den schrägen Gestalten und Kleinganoven, eine Hommage an bedingungslose Freundschaft sowie ein wenig Würze in Form einer kleinen Romanze – all das eingebettet in die Alltagserlebnisse eines Mannes Anfang dreißig, der unter einer auffälligen neuropsychiatrischen Krankheit leidet. Lionel Essrog steht unter dem Zwang, seine Umgebung zählen, untersuchen und ordnen zu müssen, berührt also unvermittelt sein Gegenüber, ruckt mit der Schulter, wiederholt unwillentlich Laute und stößt obszöne Worte aus. Diese plötzlichen, schnellen Bewegungen des Körpers, die zusammen mit den Lautäußerungen ohne seinen willentlichen Einfluss ablaufen, sind typisch für sein Tourette-Syndrom. Das Etikette “Tourette” gibt Lionel einen Freischein. Sein nicht gerade zimperliches Umfeld verspottet ihn als Laune der Natur, als kostenlose Freak-Show, als würde man einen Menschen mit abnormem Körperbau, einen Kleinwüchsigen, einen Elefantenmenschen auf dem Jahrmarkt beglotzen. Erweckt wird Lionel von Frank Minna, der ihn und drei andere Jungs aus dem Waisenhaus holt, um sie zu Handlagern für seine zwielichtigen Geschäfte zu machen, die unter dem Deckmantel “Transportdienst” und Detektei abgewickelt werden. Als Minnas sorgsam gepflegte Kraftfeld aus der Bahn gerät und der Chef der Minna Men umgebracht wird, muß Lionel, mit 33 Jahren erneut zum Waisenkind geworden, die Ordnung in seiner Welt wieder herstellen und den Mörder suchen. Ohne wirkliches Rüstzeug, ohne Kontrolle über den Fall, gesteuert von seinen Eingebungen, geschüttelt von verräterischen Tics, häufig mit mehr Glück als Verstand. Ein brillianter Erzähler hat diesen fesselnden Roman geschrieben. Die gerade mal zwei Tage umfassenden turbulenten Ereignisse des sympathischen Ich-Erzählers möchte man gerne in “Echtzeit” mitlesen, dem selbstironisch reflektierenden Helden geradezu zur Seite stehen. Das Buch strotzt vor spritzigen Dialogen und bietet manche slapstick-artige Situationskomik. Liebevoll ausgearbeitete Figuren und Umgebungen bringen die Puzzle-Stückchen einer Verschwörung näher, was überraschende Wendungen aber nicht ausschließt. Martina Morawietz (Köln)