Zum Buch:
„Seine Kinder fallen vom Himmel. Er sieht vom Pferd aus zu, hinter ihm dehnen sich die Weiten Englands. Sie fallen, goldflügelig, mit blutunterlaufenem Blick. Grace Cromwell schwebt in dünner Luft. Lautlos fängt sie ihre Beute, lautlos landet sie auf seiner Hand. Die Geräusche, die sie dann macht, das Rascheln des Gefieders, das Seufzen und das Ordnen der Schwingen, das leise Glucken aus der Kehle, sind Geräusche des Wiedererkennens, vertraut, töchterlich, fast missbilligend. Ihre Brust ist blutbefleckt, und an ihren Klauen hängt Fleisch.“
Mit diesen Sätzen, die zweifellos einen Ehrenplatz in der Liste großartiger Romananfänge verdienen, beginnt Hilary Mantel den zweiten Band ihrer Romantrilogie über Thomas Cromwell, den Berater des englischen Königs Heinrich VIII. Und gleich hier, ganz am Anfang, versammelt sie die Instrumente, mit denen sie erneut das Kunstwerk vollbringt, den Leser so in eine lange vergangene, fremde Zeit zu führen, dass der sie sinnlich erfahren kann: mit Augen, Ohren, Haut und Nase, ohne dabei je zu vergessen, dass es sich um eine vergangene, fremde Zeit handelt. Die Erzählzeit – Präsenz – zieht hinein in die Geschichte; die Erzählperspektive – dritte Person Singular – schafft Distanz. Die Beschreibung so dicht, dass man die Lautlosigkeit und die kleinen Geräusche des Falken förmlich hören, die Landung auf der Hand spüren und das Blut riechen kann. So also fühlt sich im Herbst 1535 in England die Jagd mit Falken an – „ein fortwährendes Reißen, mit auffliegenden Fellfetzen und Federbüscheln …“ – wenn der König mit seinem Gefolge das Land bereist, die Häuser der Adligen besucht und versucht, die politischen Probleme mit Papst, Kaiser und europäischen Königshäusern zu vergessen, die ihm seine zweite Ehe mit Ann Boleyn eingetragen hat. Eine Ehe zudem, die nicht zu dem erhofften Ziel – der Geburt eines Sohnes und Nachfolgers – geführt und schon nach wenigen Jahren viel von ihrem Reiz verloren hat. Und so ist es wenig überraschend, dass er sich auf seiner Reise in die unscheinbare, schüchterne Jane Seymour verliebt. Aber aus dieser königlichen Laune entstehen Intrigen und Machtkämpfe, die England in einen Krieg mit allen europäischen Mächten zu ziehen drohen, und wieder ist es Cromwell, der wie schon bei der ersten, folgenschweren Scheidung des Königs ein Lügengebäude errichten muss, das sich dem Volk als Wahrheit und den ausländischen Diplomaten als annehmbare Entschuldigung verkaufen lässt.
Das Drama dieser Monate, das im September 1535 beginnt und im Mai 1536 mit der Hinrichtung Ann Boleyns endet, beschreibt Hilary Mantel mit beispielloser Kunstfertigkeit und, wenn man all den kundigen Rezensionen trauen kann, mit einer Genauigkeit, die jeder historischen Überprüfung standhält. Aber über den historischen Rahmen hinaus und ohne ihn je zu verlassen ist es die Beschreibung der menschlichen und moralischen Konflikte der Protagonisten in diesem Machtspiel, der diesen Roman zu ganz großer Literatur macht.
Irmgard Hölscher, Frankfurt am Main.