Zum Buch:
Als 2010 der Debütroman Wölfe der Booker-Preisträgerin Hilary Mantel in deutscher Übersetzung erschien, überschlugen sich die Feuilletons geradezu einhellig vor Begeisterung und Lobeshymnen. Irgendwo stand geschrieben, Hilary Mantel hätte ein »Teilreich der Literatur erneuert: den historischen Roman«, und der Kölner Stadtanzeiger ließ sich sogar dazu hinreißen, Wölfe als »ein Werk von shakespearescher Größe und Wucht« zu bezeichnen.
Hohes Lob. Zweifellos verdient hohes Lob.
Jetzt ist mit Brüder ihr zweiter Roman erschienen, und wie bereits in ihrem Debüt bedient sie den Leser mit einer ausgewogenen Mischung aus detailgetreuem Faktenreichtum und packendem, erzählerischem Talent. Die Frau muss für dieses Elfhundert-Seiten-Epos eine Recherchearbeit geleistet haben, die man sich auch nicht annähernd vorstellen kann oder möchte. Eine unglaubliche Leistung, die dem Roman auf jeder einzelnen Seite zu Gute kommt.
Erzählt wird die Geschichte dreier junger Männer, die die Französische Revolution von 1789 maßgeblich beeinflusst haben:
Camille Desmoulins, ein launenhafter, gutaussehender Rechtsanwalt und Journalist, dem Frauen jeglichen Alters zu Füßen lagen, ein Stotterer, der bei seinen stundenlangen Reden im Nationalkonvent die Zuhörer dennoch bewegen konnte wie kein anderer. Ein Aufklärer der ersten Stunde, der gemeinsam mit seinem Freund Danton am blutigen Sturm auf die Bastille sowie an den sogenannten Septembermorden von 1792 beteiligt war.
Georges Jacques Danton stammte aus kleinbürgerlicher Familie, wurde Schreiber beim Prokurator von Paris und dort später Rechtsanwalt. Ein gedrungener, stiernackiger und von Gesichtsnarben entstellter Mann, der für sein Redetalent berühmt war und dem auf einen Fingerzeig hin das einfache Volk wie ein Mann folgte. Als bekannt wurde, dass er Wohlfahrtsgelder für private Zwecke veruntreut und während des Krieges Geheimverhandlungen mit dem Erzfeind England aufgenommen hatte, wurde er von Robespierre gestürzt und als Revolutionsgegner verurteilt.
Maximilien de Robespierre. Der „Unbestechliche“, Jugendfreund von Desmoulins, Rechtsanwalt, gewiefter Politiker und mitverantwortlich für den Terror der Revolutionsjahre 1793/94, dem Zigtausende unschuldige Menschen zum Opfer fielen. Robespierre war ein absoluter Einzelgänger, ein Mann des Papiers, weniger ein Redner. Ein Schmalhans, der jedoch bei jedem Wetter immer absolut perfekt gekleidet war. Ein zurückhaltender Mann der guten Sitten, ebenso furchtsam wie hinterhältig.
Alle drei waren enorm machtbesessen und erlebten dennoch – oder gerade deshalb – das Ende der Revolution, der sie sich so sehr verschrieben hatten, nicht mehr mit. Sie alle verloren ihren Kopf unter der Guillotine, eben jenem Instrument, welches sie für die Beseitigung von Feinden wie von Verweigerern der Revolution selbst erdacht hatten.
Man sollte sich, um dies Buch wirklich genießen zu können, schon ein wenig für die Geschichte der Französischen Revolution interessieren, doch bedarf es keiner umfassenden Vorkenntnisse, denn Hilary Mantel führt den Leser ohne zu stolpern durch alle Höhen und Tiefen einer an Geschichtsträchtigkeit überbordenden Zeit. Aber Brüder, gleichzeitig ein Panoramablick auf ein Weltgeschehen von unvergleichlicher Wirkung und eine Dreifach-Biografie, die es, was Dynamik und Dramatik angehen, schlichtweg in sich hat, ist viel, viel mehr als nur reine Fleißarbeit, denn gerade durch die unverwechselbaren, witzig-bissigen Dialoge, mit denen Mantel erneut überzeugt, lässt sich Brüder trotz des Umfangs angenehm flüssig und kurzweilig lesen.
Axel Vits, Der andere Buchladen, Köln