Belletristik

Drucken

Buchempfehlung Belletristik

Autor
Martel, Yann

Ein Hemd des 20. Jahrhunderts

Untertitel
Roman. Aus dem Englischen von Manfred Allié und Gabriele Kempf-Allié
Beschreibung

Henry T., ein ehemals erfolgreicher Schriftsteller, bekommt eines Tages einen Brief von einem Leser, der ihn sehr neugierig macht. Die Suche nach jenem führt Henry zur Tierpräparation »Okapi« und ihrem Besitzer. Der zeigt ihm Szenen eines ungewöhnlichen Theaterstückes, das er gerade schreibt. Es handelt vom »Schrecken«. Doch was ist der »Schrecken«, was geschieht da, und wie können wir Erlebnisse benennen, die sich in ihrer Grausamkeit jeglicher Sprache entziehen?

Verlag
Fischer Verlag, 2010
Format
Gebunden
Seiten
224 Seiten
ISBN/EAN
978-3-10-047828-3
Preis
18,95 EUR

Zur Autorin/Zum Autor:

Yann Martel wurde 1963 in Spanien geboren. Seine Eltern sind Diplomaten. Er wuchs in Costa Rica, Frankreich, Mexiko, Alaska und Kanada auf und lebte später im Iran, in der Türkei und in Indien. ›Schiffbruch mit Tiger‹ ist sein dritter Roman, er war nominiert für den Governor General Award und den Commonwealth Writers Prize und gewann den Booker Prize 2002. Yann Martel lebt mit seiner Familie in Saskatchewan.

Zum Buch:

Als noch nicht bekannt war, dass Bruno Doessekker alias Binjamin Wilkomirski mit seinem Buch „Bruchstücke“ keine wahren Erinnerungen an seine Kindheit in deutschen Konzentrationslagern, sondern reine Fiktion vorgelegt hatte, schrieb Daniel Goldhagen: „Dieses fesselnde Buch belehrt auch jene, die mit der Literatur über den Holocaust vertraut sind. Es wird jeden tief bewegen“. Ob man Doessekker üble Absichten unterstellt oder nicht, er hat in unzulässiger Weise eine Grenze überschritten: Er hat geschichtliche Tatsachen mit Fiktion vermischt, ohne dies zu kennzeichnen.

Wie aber ist ein Buch einzuordnen, mit dem ausdrücklich der Versuch unternommen wird, die Vernichtung der europäischen Juden zu literarisieren? Ist das statthaft, gar angebracht und notwendig, oder ist es überflüssig, geschmacklos und verharmlosend? Elie Wiesel war der Überzeugung, dass Auschwitz – Chiffre schlechthin für den Massenmord – sich jeder Fiktionalisierung verweigere. In den letzten 10 bis 20 Jahren konnten noch etliche wichtige Erinnerungen und Berichte von Überlebenden und Zeitzeugen des Holocaust veröffentlicht werden, genauso wie Archivmaterial, das lange unzugänglich war. Eines nicht allzu fernen Tages jedoch werden auch die letzten Zeitzeugen und Überlebenden der Vernichtungslager tot sein und ihre Erinnerungen nicht mehr persönlich weitergeben können. Spätestens dann stellt sich die Frage, ob und wie mit dem Holocaust auch literarisch umgegangen werden kann. Yann Martel tut dies in seinem neuen Roman, indem er eine verschachtelte, auf mehreren Ebenen handelnde Geschichte mit verschiedenen Erzählperspektiven konstruiert. Er schreibt mit dem nötigen Respekt und großer Ernsthaftigkeit, mit enormer Phantasie, sprachlicher Brillanz und dramaturgischem Können. Entstanden ist dabei ein außergewöhnliches und äußerst beachtenswertes Buch, das zudem auch noch spannend und gut lesbar ist: Der erfolgreiche kanadische Schriftsteller Henry – Ähnlichkeiten sind sicherlich nicht zufällig – hat nach 5-jähriger Arbeit endlich ein neues Werk beendet. Es ist ein Buch über den Holocaust, halb Roman, halb Essay, und als sogenanntes „flipbook“ konzipiert, also ein Buch, das von zwei Seiten her gelesen werden kann. Henrys Idee und Anliegen dabei ist die künstlerische Verarbeitung geschichtlicher Ereignisse, denn er ist überzeugt: „Wenn aus Geschichte nicht Geschichten werden, ist sie tot“. Anders als vom Autor erwartet, wird das Manuskript von seinen Verlegern und deren Beratern aber als unverkäuflich abgelehnt. Henry ist entsetzt, wütend und verletzt. Er fühlt sich zutiefst missverstanden und gibt als Konsequenz das Schreiben auf. Fortan widmet er sich nur noch seinen Hobbys und dem Privaten, zieht mit seiner Frau Sarah in eine andere Stadt, bekommt mit ihr ein Kind. Obwohl die Veröffentlichung des Romans, auf dem Henrys Ruhm basiert und in dem (wie in Martels „Schiffbruch mit Tiger“) Tiere eine gewisse Rolle spielen, bereits etliche Jahre zurück liegt, bekommt er noch immer Fanpost dazu. Die beantwortet er gewissenhaft, wenn auch routiniert. Ein dicker Briefumschlag fällt allerdings aus dem Rahmen und macht ihn etwas ratlos. Er enthält eine Erzählung von Flaubert, mit vielen Anstreichungen versehen, Teile eines ungewöhnlichen Theaterstücks, das vom „Schrecken“ handelt, und eine Bitte um Hilfe. In dem Theaterstück versuchen die Eselin Beatrice und der Brüllaffe Vergil in Beckett’scher Manier, ein namenloses Verbrechen in Worte zu fassen, müssen jedoch sehr bald erkennen, dass ihnen zur Beschreibung des Grauens die Worte fehlen. Dies ist die zweite Handlungsebene. Der dritte Handlungsstrang, der die beiden ersten verbindet, beginnt damit, dass Henry sich auf den Weg macht, um seine schriftliche Antwort dem in derselben Stadt lebenden Verfasser des Briefes seine schriftliche Antwort in den Briefkasten  zu werfen. Als er dann aber vor der „Taxidermie Okapi“ steht, wird seine Neugier geweckt; er muss sich den Laden unbedingt anschauen. Der wortkarge kauzige Tierpräparator – der Autor des Theaterstücks –, den er dort trifft, fasziniert ihn auf seltsame Art, so dass er ihn immer wieder besucht und schließlich gemeinsam mit ihm an dessen Stück über den Schrecken arbeitet. Ich habe „Ein Hemd des 20. Jahrhunderts“ nicht im Original gelesen und kann also nur vermuten, wie schwierig es für die Übersetzer Manfred Allié und Gabriele Kempf-Allié war, die sprachliche Virtuosität dieses Romans im Deutschen wiederzugeben. Es ist ein Buch, das mich tief berührt und nachhaltig  beeindruckt hat. Für mich ist Yann Martels Roman eines der bedeutendsten Bücher der letzten Zeit und eines, dem ich viele LeserInnen wünsche. Ralph Wagner, Ypsilon Buchladen & Café