Zum Buch:
Dunkelblum – ein kleiner, seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges völlig abgehängter Ort an der Österreich-Ungarischen Grenze, der sich gerne etwas auf eine angeblich größere Vergangenheit zugute hält: auf das große Renaissanceschloss und die darin residierende Grafenfamilie. Aber das Schloss haben die Russen abgebrannt, und von der Grafenfamilie lebt niemand mehr in Dunkelblum. Einzig die Familiengruft und die in ihr zur Ruhe Gebetteten existieren noch und waren, nachdem die Gruft baulich in Stand gesetzt worden war, Anlass für einen feierlichen Besuch des Grafensohns.
Der Ort könnte eine verschlafene Idylle sein, gäbe es nicht so etwas wie ein kosmisches schwarzes Loch in seinem Zentrum, das unerbittlich alle Bewohner in sein Kraftfeld saugt. In den letzten Tagen des zweiten Weltkriegs ist es im Umfeld des Schlosses zu Erschießungen gekommen, die dafür Verantwortlichen wurden nie zur Rechenschaft gezogen. Seit Jahrzehnten wird in Dunkelblum hartnäckig darüber geschwiegen – die Alten, die es wissen, wollen nicht sprechen, ihre Kinder haben sich zumeist lieber der Zukunft zugewandt.
Bis im Spätsommer 1989 nicht nur der eiserne Vorhang zu Ungarn, hinter dem hunderte von DDR-Flüchtlingen warten, durchlässig wird, sondern auch die Mauer des Schweigens im Ort zu bröckeln beginnt. Eine Gruppe von Studenten, von der niemand weiß, in wessen Auftrag sie agiert, beginnt den vergessenen, völlig zugewachsenen jüdischen Friedhof freizulegen. Ein Tourist, den niemand kennt und der sich seltsam vertraut durch den Ort bewegt, stellt unangenehme Fragen; im Streit über die künftige Wasserversorgung Dunkelblums werden bei Bohrungen auf einem Acker Teile eines Skeletts freigelegt. Dann verschwindet plötzlich auch noch die Tochter eines einheimischen Winzers, die sich zusammen mit ein paar wenigen Aufrechten für die damaligen Geschehnisse interessiert. Hinter der biederen Fassade beginnt es gewaltig zu brodeln …
Eva Menasse hat mit Dunkelblum keine Chronik eines Verbrechens im eigentlichen Sinne geschrieben. Die Tat selbst steht zwar im Mittelpunkt, wird aber nicht auserzählt. Der Text ist vielschichtig, wechselt zwischen den Zeiten von 1945 bis 1989 und einem großen Kreis von Haupt- und Nebenpersonen, für deren Gedanken- und Gefühlswelt die Autorin jeweils einen eigenen Ton findet. Den Gesamtklang bildet das österreichische Idiom mit seinem gemütlich klingenden Tonfall, der so schnell ins Bösartige umschlagen kann und beim Lesen genauso plötzlich von Komik zu Schrecken wechselt. Eine Lektüre, die nicht mehr loslässt und lange nachwirkt – denn eines dürfte sicher sein: es wird noch viele Orte wie Dunkelblum geben und nicht nur in Österreich.
Der Ort Dunkelblum ist eine Fiktion der Autorin, die Bewohner und Ereignisse mag es so oder ähnlich überall geben, wo man lieber nicht genauer in die Vergangenheit schauen mag. Das Beklemmende ist: Dunkelblum gibt es, es heißt Rechnitz, und das Massaker an 180 jüdischen Zwangsarbeitern, verübt von den Feiernden in einer ausgelassenen Ballnacht auf dem Schloss, ist beklemmende Realität. Nach dem Massengrab wird bis heute gesucht; die damals Verantwortlichen sind nie zur Rechenschaft gezogen worden. In einem Punkt ist die Literatur der Geschichtsschreibung überlegen: Sie zeigt, was Geschichte mit und in den Menschen anrichtet.
Ruth Roebke, Frankfurt a.M.