Zum Buch:
»Alles Menschenknochen!«
»Der ganze Fluss ist voller Menschenknochen!«
»Die hätten die Leine schon viel früher trockenlegen sollen
«
»Gleich, als das hier anfing mit den Knochen!«
So reden die Leute. In Sprechblasen.
Am Morgen des 5. Juni 1924 senkte das Verkehrsamt in Hannover mittels eines Stauwerks den Wasserstand der Leine (ein recht kleiner Nebenfluss der Weser) bis auf wenige Zentimeter herab, sodass ein gutes Dutzend Polizisten in das schlammige Flussbett hinunter steigen konnte, auf der Suche nach Knochen. Die Männer wurden dann auch sehr schnell fündig. Am Ende bargen sie über 500 menschliche Knochen und Knochenteile, Rippen, Wadenbeine, Zehen- und Oberschenkelknochen, Schädel. Mit einem scharfen Messer sauber aus den Gelenken herausgetrennt. Die gerichtsmedizinische Auswertung ergab später, dass sie von mindestens 22 Personen stammten. Allesamt junge Männer im Alter zwischen 14 und 19 Jahren.
Friedrich Fritz Heinrich Karl Haarmann wurde 1879 in Hannover geboren. Sein Vater war ein arbeitsloser, extrem gewalttätiger Alkoholiker. Von der Mutter wurde er verwöhnt, von seinem älteren Bruder über Jahre sexuell missbraucht. Im Anschluss an eine abgeschlossene Schlosserlehre trat er in den Militärdienst ein, wurde jedoch schon bald wieder entlassen, da man Anzeichen von geistiger Störung bemerkt hatte. Zurück im Zivilleben, wurde Haarmann mehrfach wegen unzüchtiger Handlungen angeklagt, woraufhin man ihn zwecks Überprüfung seines Geisteszustandes in die Heil- und Pflegeanstalt Hildesheim einwies. Die Ärzte diagnostizierten unheilbaren Schwachsinn.
Haarmann floh. Mehrmals, zuletzt aus der sogenannten Idiotenanstalt in Langenhagen. Wieder zurück in Hannover, konnte er schließlich als Altkleiderverkäufer Fuß fassen und wurde von der Polizei als Spitzel eingesetzt. Er bekam sogar einen Ausweis. Bekannt als Kriminal Haarmann durchstreifte er dann nachts die Wartesäle des Hauptbahnhofs, immer auf der Suche nach jungen, allein reisenden Männern und Streunern. Halb drohend, halb kumpelhaft überredete er sie, mit zu ihm nach Hause zu gehen. Dort gab er ihnen dann etwas zu essen, oder man trank zusammen. Dann verging er sich an ihnen. Biss ihnen die Kehle durch. Zerhackte sie.
Die Kleider der Ermordeten verkaufte er in der Nachbarschaft. Wie auch ihr Fleisch. In Stücken oder als Würste. Es kam zwar immer mal wieder zu Verdächtigungen und Anzeigen, aber Haarmann verstand sich mit den dortigen Polizisten so gut, dass er sich immer wieder herausreden konnte.
Bis sie ihm eines Tages dann doch auf die Spur kamen.
Bei einer anschließenden Wohnungsdurchsuchung fanden die Beamten Haarmanns Bett und den Holzboden durchtränkt von menschlichem Blut. Er wurde sofort verhaftet. Aufgrund eines Geständnisses, das unter Anwendung von Folter rasch erzwungen wurde, verurteilte man ihn schließlich zum Tode durch das Fallbeil.
Kein Zweifel, Graphic Novels sind schwer im Kommen, und natürlich heißt dabei die erste Adresse: Carlsen Verlag. Seit ich vor knapp einem halben Jahr Shaun Tan rezensiert habe, habe ich mich zum Fan dieser Kunstart gemausert: Riff Reb´s, Reinhard Kleist, Robert Crumb, Abolin & Pont. Und natürlich Isabel Kreitz.
Isabel Kreitz hat sich spätestens mit ihrer Adaption von Uwe Timms Roman Die Entdeckung der Currywurst in die obere Riege der Comiczeichner katapultiert. Ihre durchweg in Schwarzweiß gehaltenen Zeichnungen sind so dermaßen genau und ausgefeilt, dass man ihren Stil sofort und überall wiedererkennt. Und bewundert. Ihre Adaption des Falls Haarmann ist kein düsteres Horrorszenario, sondern bezieht seine Spannung gerade durch das Fehlen eindeutiger Bilder und lebt durch die knappen, teilweise in Umgangssprache gehaltenen Sprechblasentexte des Schriftstellers Peer Meter, der bereits bei der Adaption der Entdeckung der Currywurst mit Isabel Kreitz zusammengearbeitet hat. Im Anhang werden dann noch einmal die genauen Hintergründe des Falls geschildert, der damals besonders durch das skandalöse Fehlverhalten der Polizei für immense Aufregung unter der Bevölkerung sorgte und zu einem Politikum wurde.
Ein Stück Zeitgeschichte in Comicform? Selbstverständlich!
Axel Vits, Der andere Buchladen, Köln