Zum Buch:
Kennen Sie das Bild „Die Elf“ des bekannten französischen Malers Francois-Élie Corentin? Ich kannte es auch nicht, aber man kann ja auch nicht alles kennen, und ich muss zugeben, dass bei mir gewisse Lücken in der Kunstgeschichte vorhanden sind. Aber es hängt im Louvre und wird als das „berühmteste Gemälde der Französischen Revolution“ apostrophiert, das sogar die Mona Lisa in den Schatten stellen soll. „Die Elf“ – das sind die Mitglieder des Wohlfahrtsausschusses des Französischen Revolution: Billaud, Carnot, Prieur, Prieur, Couthon, Robespierre, Collot, Barère, Lindet, Saint-Just, Saint-Andrè. Gemeinsam versammelt auf dem gleichnamigen Bild, vor den sich die Bewunderer drängen, trotz der spiegelnder Glasscheibe, die immer wieder den Blick versperrt, gemalt im Thermidor und in Auftrag gegeben von – ja, von wem eigentlich? Warum wurde dieses so bekannte Bild gemalt? Um Robespierre und seine Anhänger zu desavouieren? Um ihnen zu huldigen? Darauf hat selbst Jules Michelet keine endgültige Antwort, der sich in seinem berühmten Werk über die französische Revolution ausführlich über das Bild auslässt.
Akribisch lässt Pierre Michon seinen – kunsthistorisch ausgesprochen versierten – Erzähler den Besuchern im Louvre die Lebensgeschichte des Malers erzählen – seine Lehrzeit bei Tiepolo, der ihn als blonden Pagen auf seinem Deckengemälde in Würzburg verewigte, seine Familiengeschichte, sein Aufstieg im Limousin, seine Zeit in Paris und schließlich der geheimnisvolle Auftrag, der ihn unsterblich machen wird – und natürlich die Geschichte des Bildes selbst. Am Ende des schmalen Bändchens ist man, begeistert von der kunstvollen Beschreibung, den klugen historischen Ausführungen und den Reflexionen über Kunst und Macht, geneigt, sich den Fahrplan des TGW herauszusuchen und die nächste Parisreise zu planen, um möglichst bald vor diesem Bild zu stehen und es mit ganz neuen Augen betrachten zu können – wenn, ja wenn man es denn sehen könnte. Denn was kann die spiegelnde Glasscheibe, die dieses großartige Werk schützt, anderes zeigen als den Betrachter selbst? Gibt es das Bild überhaupt? Oder existiert es nur auf den Seiten dieser Novelle? Und ist es in dieser brillanten Beschreibung nicht sogar besser aufgehoben als im Louvre? All diese Fragen mag derjenige, der sich auf das großartige Vexierspiel dieses Büchleins einlässt, beantworten oder auch nicht – aber ganz sicher hat er einen literarischen Witz der Extraklasse kennengelernt und sich bei der Lektüre ausgezeichnet amüsiert.
Irmgard Hölscher, Frankfurt am Main