Zum Buch:
Worpswede, Juni 1905. Der 33jährige Heinrich Vogeler ist auf dem Höhepunkt seines Ruhms angelangt: In wenigen Tagen wird er die „Große Goldene Medaille für Kunst und Wissenschaft“ entgegennehmen – verliehen unter anderem für das Bild „Das Konzert oder Sommerabend auf dem Barkenhoff“. Ein Bild ganz in der idyllischen Tradition, die das deutsche Publikum so liebt: am Gartentor die träumerisch in die Ferne blickende Hausfrau, davor der treue Hund, links dahinter am Tisch die Gäste, rechts ein Kammerorchester, und alles umrankt von Rosen und Birken und eingerahmt von kugelförmig beschnittenen Bäumchen in Kübeln. Angefangen hatte er das Bild fünf Jahre zuvor, als seine Welt noch in Ordnung war: das Haus, von ihm entworfen und durchgeplant bis in die kleinste Einzelheit, bereit für die geliebte Martha und die zu erwartenden Kinder, der Erfolg auf den vielen künstlerischen Feldern, auf denen er sich tummelte, die Künstlerfreunde und -freundinnen im Dorf, die Feste und Gespräche in der Worpsweder Künstlerkolonie, das Verhältnis zur einheimischen Bevölkerung – etwas Idyllischeres hätte man sich kaum vorstellen können.
„Aber dann kam Rilke.“ Rilke, der verkrachte Student und unscheinbare, verhuschte Dichter, noch völlig unbekannt und stets ums finanzielle Überleben kämpfend, der Seelenverwandte, der Vogelers Kunstverständnis zutiefst zu teilen scheint, der, wo er geht und steht, seine rätselhaften Gedichtzeilen vor sich hin murmelt – und der das Worpsweder Idyll gründlich aufmischt. Die Auseinandersetzung dieser beiden Männer – ausschließlich aus der Perspektive Voglers – steht im Mittelpunkt dieses Romans, der so ernsthaft wie hoch komisch die Frage nach dem Verhältnis von Kunst und Leben stellt. Der 23jährige Rilke, begnadeter Schnorrer und eitler Kotzbrocken, Frauenversteher und -verführer, taucht wie ein Springteufelchen im Teufelsmoor auf, verspricht alles und hält nichts, zieht sich immer wieder zu seiner verehrten Lou Andreas-Salomé zurück und verstört seinen Freund und finanziellen Unterstützer genauso wie die Dorfbevölkerung mit neuen, abgefahrenen Ideen – vom Vegetarismus bis zum Barfußlaufen –, lässt sich und seine Frau von Vogeler aushalten, nur um ihn kalt lächelnd bei der erstbesten Gelegenheit abzuservieren. Aber es geht Modick um mehr als um ein lustvolles Rilke-Bashing. Die Auseinandersetzung der beiden Künstler, die auf den Erinnerungen und Tagebüchern von Vogeler und Rilke basiert, ist vor allem eine Auseinandersetzung über ganz unterschiedliche Auffassungen von Kunst und Leben: hier der Dichter Rilke mit seinem genialischen Kunstbegriff, dort der Maler Vogeler, der darauf hinweist, dass es bei den Griechen keine Muse der bildenden Kunst gab, weil sie Malerei und Skulptur als Handwerk begriffen. Hier der präraffaelitische Maler, der in und mit der Natur leben will und sich aufs beste mit der Dorfbevölkerung versteht, dort der von Adel schwärmende Dichter, der auch nach Jahren kein Wort Platt versteht, geschweige denn spricht. Hier das Genie, das für jedes Mäzenatentum, egal von wem, offen ist, dort der erfolgreiche Künstler, der sich als Sklave der Kunsthändler fühlt. In unglaublich bildhafter Sprache schildert Modick diese Auseinandersetzung am Beispiel der Worpsweder Künstlerkolonie, schonungslos, was die Personen betrifft, aber ohne jede Wertung ihres Werks. Obwohl seine Sympathien deutlich auf seiten Vogelers sind, macht er auf subtile Weise deutlich, dass dessen Vorwürfe an Rilke sich auch gegen ihn selbst richten, verhält er sich doch im Grunde nicht weniger opportunistisch als sein Gegenspieler. Und er behandelt dieses bis heute aktuelle Thema so locker und luftig-leicht, dass die Lektüre zum reinen Vergnügen wird – einfach großartig!
Irmgard Hölscher, Frankfurt am Main