Zum Buch:
Vor ziemlich genau 80 Jahren, an einem kalten Tag im April 1943, sitzt das Mädchen Sara wie an jedem anderen Tag im Unterricht, als der Schuldirektor den Unterricht mit der Nachricht unterbricht, dass alle jüdischen Kinder sich im Hof versammeln sollen. In den vorangegangenen Wochen hatte sich die Situation auch in Frankreich für jüdische Mitbürger nach und nach verschlechtert, doch Saras Mutter blieb bis zum Schluss zuversichtlich, dass ihnen keine Gefahr drohte. Ein fataler Irrtum. Als deutsche Soldaten die Kinder in der Schule abholen – eine Lehrerin versucht noch, das zu verhindern, wird dann aber selbst verhaftet – gelingt es Sara, sich in einem abgelegenen Teil der Schule zu verstecken. So viel Angst hat sie noch nie gehabt, und sie bereut bitterlich, dass sie sich morgens für ihre schönsten und nicht die wärmsten Schuhe entschieden hat.
Die Stunden in ihrem Versteck sind der Beginn einer langen und gefährlichen Zeit ohne ihre Eltern, in absoluter Ungewissheit über deren Verbleib und immer wieder in großer Sorge, selbst entdeckt zu werden. Die Rettung kommt aus unerwarteter Richtung: Julien, ein Mitschüler, den Sara bisher kaum beachtet hatte und der von ihren Freundinnen häufig wegen seines hinkenden Gangs gehänselt worden war, bringt sie über die Kanalisation der Kleinstadt in eine Scheune in der Nähe seines Elternhauses. Dort wird Sara viele Monate verbringen, in steter Angst und Ungewissheit, vollständig abhängig von Julien und seinen Eltern, die sich mit großem Herzen um das Mädchen kümmern, ungeachtet der Gefahr, in die sie sich selbst dadurch bringen.
Die Ausnahmesituation wird zum Alltag. Sara lebt sich ein in ihrem Versteck auf einem Heuboden hinter Strohballen, ohne elektrisches Licht und vor Hitze und Kälte der Jahreszeiten nur notdürftig geschützt. Jeder Besuch von Julien und seinen Eltern, jedes Buch, jedes Stück Papier wird zur herbeigesehnten Abwechslung. Erst jetzt wird ihr bewusst, wie behütet ihre bisherige Kindheit, wie verwöhnt und arrogant sie selbst war. Und sie schämt sich dafür, dass sie nie eingeschritten war, wenn andere Kinder Julien verspotteten. Stunden tiefer, einsamer Verzagtheit wechseln bei Sara mit Momenten der Freude und Unbeschwertheit ab, sobald Julien Sara besucht. Gemeinsam entfliehen sie der bedrohlichen Situation in ferne und abenteuerliche Welten, die sie sich gegenseitig durch Worte erschaffen.
Berührend beschreibt R.J. Palacio, die den meisten durch ihren Bestseller Wunder bekannt sein dürfte, wie Fantasie und Menschlichkeit in schweren Zeiten Leben retten können. Die Autorin bettet Saras Fluchtgeschichte in eine Rahmenhandlung ein, mit der White Bird beginnt: Julian, den wir aus Wunder als den Peiniger des Protagonisten Auggie kennen, bittet seine Großmutter, ihm für eine Schulaufgabe von ihren Erfahrungen während des zweiten Weltkriegs zu berichten. Die alte Dame ringt mit ihren schmerzhaften Erinnerungen, entschließt sich aber gegen das Schweigen. So erfahren Julian und auch wir ihre Geschichte: die Geschichte von Sara Blum. „Das waren dunkle Zeiten, ja … aber was mir am meisten geblieben ist, ist nicht die Dunkelheit, sondern das Licht.“
Der Hanser Verlag hat White Bird – Wie ein Vogel zeitgleich als Roman mit einigen wenigen Illustrationen und als Graphic Novel mit eindrucksvollen Bildern herausgebracht. Beide Ausgaben dieser berührenden Geschichte über die Abgründe des Menschen, aber auch über unendlichen Mut und tiefe Menschlichkeit, sind Jugendlichen ab 13 Jahren sehr zu empfehlen!
Larissa Siebicke, autorenbuchhandlung marx & co, Frankfurt