Zum Buch:
„Ich sah die Heimat eines Gottes…“ „Ich sah eine Walkuh, die in etwa dreißig Meter Wassertiefe schlafend im Blau des Meeresgrundes lag.“ „Ich sah den weinenden Sohn des Gärtners auf der Freitreppe eines Herrenhauses in der irischen Grafschaft Cork.“
„Ich sah das Spiegelbild eines Gletschers auf dem lichtgrünen Wasser eines Bergsees in der osttibetischen Region Kham.“ Siebzig Mal „Ich sah“. Jeder Abschnitt des neuen Buches von Christoph Ransmayr beginnt so, jeder ist aus einer anderen Region der Erde. Die Schauplätze sind Rapa Nui, die Dominikanischen Karibik, Irland, Tibet. Aber auch Österreich, China, Tschechien. Es sind kurze, drei- bis achtseitige Texte. Augenblicke, die der Autor eingefangen hat, Momente, in denen der normale Ablauf der Zeit stillzustehen scheint. Bei einigen handelt es sich um ganz außergewöhnliche Erfahrungen, wie die Begegnung mit einer Walkuh und ihrem Kalb auf einem Tauchgang. Andere sind ganz banal, wie der Anblick zweier kämpfender Hunde, die sich um ein Stück Stoff streiten. Was alle Texte auszeichnet, ist der genaue Blick, mit dem der Autor die Situation festhält. Viele enden mit einer überraschenden Wendung, was nicht in allen Fällen gelingt, oft aber den Atem stocken und den Leser für einen kurzen Augeblick anhalten und den Bildern nachspüren lässt.
Erstaunlich ist, wie einer so gucken kann. Dem Alltäglichen noch etwas Verblüffendes, dem Elenden etwas Schönes, dem Erhabenen eine leise Komik abgewinnen kann. Ransmayr hat den Blick eines Menschen, der viel, aber immer noch nicht genug gesehen hat, der immer noch berührbar ist.
Nicht alle Erzählungen sind von der gleichen atmosphärischen Dichte. Manche sind ein wenig pathetisch, und nicht jedes Sujet wird jeden Leser ansprechen. Das schmälert die Lektüre jedoch nicht, denn was dem einen Leser weniger gut gefällt, berührt vielleicht den anderen, und was gibt es Schöneres über ein Buch zu sagen, als dass wohl jeder etwas darin finden wird, das ihm im Gedächtnis bleibt.
Ruth Roebke, autorenbuchhandlung marx & co, Frankfurt