Zum Buch:
Das Buch beginnt mit einer tumultartigen Szene: Auf dem Berliner Bahnhof Alexanderplatz erwartet eine große, aufgeregte Menschenmenge, an der Kleidung als orthodoxe Juden zu erkennen, einen berühmten Rabbi aus Osteuropa. Sein Eintreffen wird begeistert gefeiert. Am Rande steht ein elegantes, junges Paar: Johann Ketner, Sohn eines assimilierten, reichen jüdischen Bankiers, und seine Frau Helene. Sie sind fasziniert von dem Geschehen, gebannt und angezogen von dem fremdartigen Aussehen und Benehmen der aufgeregten Menge.
Damit ist das Spannungsfeld umrissen, in dem sich der Roman „Grenadierstraße“ bewegt: Es sind die unterschiedlichen Lebenswelten der Juden in Berlin am Ende des 19. Jahrhunderts bis zum Beginn der zwanziger Jahre. Johann Ketner ist ein zarter Knabe, der, erschüttert durch den frühen Tod der Mutter, allein bei seinem Vater, einem durch und durch rationalen Mann, aufwächst. Es ist ein liberales Elternhaus, außer an Rosh HaSchana und Jom Kippur geht man nicht in die Synagoge. Die orthodoxen Juden, die in immer größeren Scharen aus Osteuropa nach Berlin kommen und sich zumeist im Scheunenviertel niederlassen, der Gegend rund um die Grenadierstraße, sind den meisten Liberalen ein Gräuel, fürchten sie doch zu Recht, dass deren Aussehen und Gebaren viele national gesinnte Deutsche in ihren antisemitischen Vorurteilen bestärken. Johann, ein Idealist und Suchender von nervösem Temperament, steht für einen Teil der Jugend aus aufgeklärten jüdischen Elternhäusern. Materiell abgesichert, vom „schnöden Gelderwerb“ der Väter abgestoßen, zieht es sie hin zu dem offen und inbrünstig gelebten Glauben der Chassiden.
Fischl Schneersohn zeichnet mit der Lebensgeschichte seines Protagonisten ein umfassendes Bild der deutschen Gesellschaft vor und nach dem ersten Weltkrieg und den damaligen Lebenswelten der Juden. Die Suche nach seiner „wirklichen Bestimmung“ führt Johann zur Auseinandersetzung mit Sozialismus, Kommunismus, anarchistischen Strömungen, in Burschenschaften, an die Universität und in die Synagogen. Innerlich haltlos, taumelt er durch sein Leben, bis er nach einer tiefen Krise während des ersten Weltkriegs seinen Weg als Künstler findet.
„Grenadierstraße“ ist eine höchst interessante Lektüre. Dass die erklärenden Absichten des Autors manches zuweilen etwas holzschnittartig geraten lassen, schmälert die Faszination dieses Buches nicht. Den Herausgebern sei für die erhellenden Vor- und Nachworte gedankt, durch die der Leser wichtige Informationen zum Autor und zum Hintergrund des Romans erhält.
Ruth Roebke, autorenbuchhandlung marx & co, Frankfurt