Zum Buch:
Im Juni 1954 wird der 18-jährige Emmett endlich aus der Jugendstrafanstalt entlassen – früher als erwartet, weil sein Vater gestorben ist und er sich um seinen elfjährigen Bruder Billy kümmern muss. Deshalb wird er auch vom Anstaltsleiter persönlich nach dreistündiger Autofahrt in Morgen in Nebraska abgeliefert und mit guten Ratschlägen für sein weiteres Leben versehen. Aber Emmett weiß selbst, was Sache ist. Er muss die verschuldete Farm, die sein Vater mehr schlecht als recht bewirtschaftet hat, verkaufen und ist fest entschlossen, mit dem blauen, viertürigen 1948er Studebaker, der nicht der Bank, sondern unzweifelhaft ihm gehört, und natürlich mit Billy in Texas ein neues Leben anzufangen. Aber so einfach ist das nicht. Sein kleiner, ungeheuer (alt-)kluger Bruder hat nämlich in der Zwischenzeit unter den Sachen des Vaters versteckt vier Ansichtskarten gefunden, Ansichtskarten von ihrer Mutter, die die Familie vor Jahren verlassen hat, anscheinend ohne sich je wieder zu melden. Anhand dieser Karten, deren Poststempel aus verschiedenen Orten stammen, schließt Billy messerscharf, dass ihre Mutter in Kalifornien sein muss, zeigen doch die Stationen ihrer Reise, dass sie sich nach Westen bewegt hat, immer am Lincoln Highway entlang. Und da sie Feuerwerke liebte, steht für ihn fest, dass sie sie am 14. Juli beim Feuerwerk in Los Angeles finden werden.
Aber noch bevor Emmett ihn von der Aussichtslosigkeit dieses Plans überzeugen kann, tauchen plötzlich wie aus dem Nichts zwei seiner Kumpel aus der Strafanstalt auf – Duchess und Wooly hatten sich im Kofferraum des Wagens des Anstaltsleiters versteckt. Diese beiden nun wollen weder nach Texas noch nach Kalifornien, sondern müssen geradezu nach New York, wo Woolys Erbe auf ihn wartet: 25.000 Dollar, versteckt im Safe des verstorbenen, schwerreichen Großvaters, die sie dann durch vier teilen wollen.
Damit beginnt ein Roadmovie der Extraklasse, eine Fahrt, auf der alles schiefgeht, was schiefgehen kann – vor allem, weil Duchess ein eigenwilliges Verhältnis zum Eigentum hat – , und doch immer wieder wie durch Zauberhand auch alles gut wird, nicht zuletzt dank Billys Klugheit und dem Buch des berühmten Professors Abacus über die Helden der Weltliteratur, das er auswendig kann.
Lincoln Highway ist ein wunderbarer Schmöker voller Lebendigkeit, Witz, Skurrilität und Charme und dazu glänzend geschrieben und ebenso glänzend übersetzt. Zudem lässt Towles jeden der vier Protagonisten und noch einige andere Figuren ihre je eigene Version der jeweiligen Ereignisse erzählen, und es macht ungeheures Vergnügen, sich die einzelnen Katastrophen oder Glücksfälle aus den verschiedenen Perspektiven und damit immer wieder neu erzählen zu lassen. Glück und Unglück, richtig und falsch sind eben relativ, und Motive können nun mal grundverschieden sein, haben aber immer ihre eigene Logik. Und so verabschiedet man sich am Schluss, als die Fahrt über den Lincoln Highway nach Kalifornien endlich doch noch beginnen kann, eher fröhlich als traurig von Billy und Emmett und wünscht ihnen Glück – aber dafür wird das Buch von Professor Abacus schon sorgen.
Irmgard Hölscher, Frankfurt a.M.