Zum Buch:
Im Februar 1949 verbringt die russische Dichterin Nina Sergejewna einige Wochen in einem Sanatorium für Künstler in der Nähe von Moskau auf dem Lande. Sie hofft darauf, dort „untertauchen“ zu können. In Stille und Abgeschiedenheit, fern von dem, was ihren Alltag in Moskau quälend macht: das Zusammenleben mit den willkürlich zusammengewürfelten Menschen in der „Kommunalka“, die Sorgen um die Tochter, die Erinnerungen an den spurlos verschwundenen Mann. Für vier Wochen wird sie versorgt werden, sich um nichts kümmern müssen. Und der größte Luxus ist für sie ein Zimmer für sich allein.
Das Sanatorium entpuppt sich als Zauberberg en miniature. Eine kleine, abgeschlossene Gruppe von Menschen, die bei den gemeinsamen Mahlzeiten zusammen sitzt, bei medizinischen Anwendungen nur durch Vorhänge getrennt in der Badewanne liegt, sich auf Spaziergängen trifft. Die wichtigsten von ihnen sind ein Regisseur mit seiner jungen Begleitung, die sich krampfhaft jugendlich gebende Hauswirtschafterin, ein junges Mädchen, das dort arbeitet, ein alter jüdischer Dichter, ein eitler Journalist. Schnell sind Nina Sergejewna ihre Mitmenschen zuwider. Jeder bewegt sich im Kosmos seiner persönlichen Eitelkeiten, verkündet seine Meinungen ungefragt, und sie kann weder der Parteipresse noch den ideologischen Radiosendungen entgehen.
Aber da ist auch noch der chamäleonhafte Schriftsteller Bilibin. Ein Mann, der viele Gesichter und Stimmen hat und der sie, fast gegen ihren Willen, fasziniert. Als sie auf einem gemeinsamen Spaziergang erfährt, dass er in einem Straflager war, hofft sie, mehr über das Leben dort und damit vielleicht über die Umstände erfahren zu können, unter denen ihr Mann getötet wurde. Eine zarte Freundschaft bahnt sich zwischen den beiden an, und für Momente eröffnet sich für Nina Sergejewna die Möglichkeit einer neuen Beziehung mit einem Gleichgesinnten. Bis sie enttäuscht feststellt, dass auch Bilibin den Weg der Anpassung gehen wird und sie seine „wahre“ Stimme nur im Geheimen hören kann, während sie mit ihrer leidenschaftlichen Verteidigung der vom Regime geächteter Dichter Gefahr läuft, selbst ins Visier linientreuer Genossen zu geraten.
Die 1907 geborene Lydia Tschukowskaja hat sämtliche Phasen der russischen Gesellschaft nach der Revolution erlebt. Prägend war für sie die Zeit des großen stalinistischen Terrors, in der ihr damaliger Mann spurlos verschwand. Sie muss eine sehr mutige und widerständige Frau gewesen sein, die sich für Schriftsteller einsetzte, die Publikationsverbot hatten. Der 1949 begonnene Roman „Untertauchen“ erschien zuerst 1972 in Amerika und führte dadurch 1974 zu ihrem Ausschlussaus dem Schriftstellerverband. (Ihre beeindruckende Rede vor dem Verband hat der Verlag dankenswerterweise im Anhang abgedruckt.)Das gesellschaftliche Klima, das sie in „Untertauchen“ beschreibt, war ihr zutiefst vertraut, und wie sie mit jeweils wenigen Sätzen die Atmosphäre des Sanatoriums und die Menschen, die darin arbeiten, sowie die Gäste beschreibt, ist meisterhaft. Ist der Ton der Ich-Erzählerin anfangs noch etwas naiv-poetisch, wandelt er sich im Laufe des Romans zu Melancholie und Ernüchterung. Die wenigen handelnden Personen und erzählten Situationen führen dem Leser die Stimmung der Zeit vor: Intellektuellenfeindlichkeit, Denunziation, Einsamkeit, Verhaftung, Verhöre, Lager machen die Menschen zu Tätern und Opfern – häufig beides in einer Person. Es gibt diejenigen, die ahnungsvoll auf den nächsten Tag blicken, und die, die sich anpassen, aber wissen, dass auch ihr Untergang jederzeit kommen kann. Nichts und niemand ist in diesem System sicher. Heute trifft Verfolgung und Hetze Juden und Kosmopoliten, morgen werden es andere sein. Und so drehen die meisten ihr Fähnchen nach dem Wind, denn wer heute noch verteidigt wird, kann morgen schon zum Ausgestoßenen werden.
„Untertauchen“ ist ein bitteres Zeitportrait. Dass man es trotzdem mit großer Freude liest, verdankt sich Tschukowskajas ruhiger, schnörkelloser und doch poetischer Sprache, die selbst eine kafkaesk anmutende Erzählung in der Erzählung, in der Frauen im tiefsten Winter vor einer Kommandantur stehen, um Informationen über den Verbleib ihrer Männer zu erhalten, eine tiefe Kraft gibt. Wie gut, dass der Dörlemann Verlag das Buch, das in den siebziger Jahren schon einmal auf Deutsch erschienen war, für den heutigen Leser erneut herausgebracht hat, denn mit „Untertauchen“ ist eine großartige Schriftstellerin wieder zu entdecken.
Ruth Roebke, autorenbuchhandlung marx & co, Frankfurt