Zum Buch:
Er joggt jeden Morgen seine Runde in Govans, einem unspektakulären Viertel im Norden Baltimores, wo er in einer Souterrainwohnung zur Miete wohnt. Micah Mortimer ist Anfang vierzig, groß, knochig, ein eher ruhiger, unverbindlicher Mann. Die Kunden seiner kleinen Firma „Tech Eremit“ können sich auf seinen IT-Service verlassen. Um über die Runden zu kommen, jobbt er zusätzlich als Hausmeister. Ein durch und durch angenehmer, geregelter Alltag. Bis Micahs Welt plötzlich auf den Kopf gestellt zu werden droht.
Eigentlich hatte Micah sich vorgestellt, dass sein Leben in diesen ruhigen Bahnen immer weiterläuft. Vielleicht hatte er sich aber auch gar nichts vorgestellt, sondern sich einfach nur in seinen Alltagsritualen gut eingerichtet. Warum sie auch in Frage stellen? Als Micahs Freundin Cass ihn völlig aufgelöst anruft, weil sie befürchtet, von heute auf morgen aus ihrem Appartement geworfen zu werden, reagiert er freundlich, man könnte auch sagen beruhigend. Aber Cass wirft ihm Gefühlskälte vor. Und als sie in seiner Wohnung einem wildfremden jungen Mann begegnet, der unglücklicherweise am gleichen Tag vor Micahs Tür aufgetaucht ist und behauptet, sein Sohn zu sein, wird Cass so eifersüchtig, dass sie die Beziehung beendet. Als sich die ganze Aufregung wieder gelegt hat, ist Micah Mortimer allein. Eigentlich ein Zustand, den er mag. Aber plötzlich fühlt er sich in seiner eigenen Gesellschaft nicht mehr so wohl wie vorher.
Völlig unaufgeregt kommt dieser Roman daher; wollte man ihn verfilmen, würde daraus eher ein Kammerspiel als ein Hollywooddrama. Aber was Micah widerfährt, ist de facto höchst dramatisch: Sein Leben fällt von einem Tag auf den anderen wie ein Kartenhaus in sich zusammen, ohne dass er irgend etwas anders gemacht hätte als bisher. Im unspektakulären Alltag einer Handvoll Menschen das große Lebensdrama zu zeigen, darin ist Anne Tyler eine große Meisterin. Ihre Romane bergen tiefe Lebenseinsichten – ohne dabei auch nur eine Spur belehrend zu wirken.
Susanne Rikl, München