Zum Buch:
Schweigen, innerer Rückzug oder ein selbstgeflochtenes Netz aus Lügen – den Menschen in Steven Uhlys viertem Roman bietet sich in den letzten Jahren des Zweiten Weltkriegs kaum eine andere Möglichkeit, um zu überleben. Ohne moralisierenden Unterton zeichnet Uhly unterschiedlichste Familienschicksale von 1944 bis in die 1970er-Jahre nach. Opfer wie Täter versuchen, dem Fluch der Vergangenheit zu entkommen, und finden sich in den eigenen Erinnerungen gefangen.
Eine polnische Jüdin tötet im Herbst 1944 einen SS-Sturmbannführer. Der ortsansässige Obersturmbannführer befiehlt am nächsten Tag die Hinrichtung von 37 Menschen. Bevor er in den letzten Kampf gegen die Russen zieht, vergewaltigt er seine Haushälterin, eine schöne Frau jüdischer Abstammung, der er verfallen ist. Sie könnten namenlos bleiben, diese Menschen. Jeder weiß, dass es Schicksale wie diese gegeben hat. Indem der Autor ihnen aber Namen gibt und ihre Geschichte über Jahrzehnte hinweg erzählt, wächst aus der geschichtlichen Vergangenheit ein Roman:
Als Margarita nach dem begangenen Mord 1944 bei Wilhelm und Marta Kramer, aus Rumänien ins Warteland umgesiedelten deutschen Bauern, Unterschlupf sucht, verstecken sie sie in einem Loch in ihrem Keller. Auf der Flucht vor den Russen stirbt Margarita, kurz nach der Geburt ihrer Tochter Lisa. Das Mädchen wächst in dem Glauben auf, Marta Kramers leibliche Enkelin zu sein. Lisas und Martas Aufnahme in ein Camp für Displaced Persons rettet den beiden ihr Leben. Im Camp treffen sie auf Anna und ihren Sohn Shimon, von dem Anna nicht weiß, ob er der Sohn des Obersturmbannführers Ranzner oder einer seiner vier Adjutanten ist, die die Gelegenheit nutzten und sie nach Ranzner vergewaltigten. Lisa wird auf die Suche nach ihrer wahren Familie gehen und Anna wird ihr dabei helfen. Shimon wird sich in Lisa verlieben. Ranzner wird mit der Sehnsucht nach Anna sein Leben ruinieren. Alles wird so geschehen und noch mehr.
Steven Uhly hat einen Roman geschrieben, der in jeder Hinsicht überwältigend ist. Überwältigend klar in den Lebensbildern und eben deshalb nicht einer einzigen Wahrheit anhängend. Überwältigend in Sprache und Szenen, überwältigend in Einfühlungsvermögen und Spannung.
Susanne Rikl, München